Sozialdemokratisches Reinheitsgebot

In Schweden wurde bis in die fünfziger Jahre zwangssterilisiert. Nun wird den Opfern Entschädigung angeboten

Maria Nordin kam in der Schule nicht so richtig mit - ihre Augen waren viel zu schlecht, als daß sie die Tafel von ihrem Sitzplatz hätte sehen können, deswegen wurde das schüchterne, stille Mädchen von der Klassenlehrerin als "zurückgeblieben" eingestuft. Die Unterbringung in einem Heim wurde angeordnet, die Familie wagte nicht, gegen diese Entscheidung zu protestieren und für Maria begann so eine lange Leidenszeit in einer geschlossenen Anstalt für geistig Behinderte.

In Schweden hatte man nämlich sehr genaue Vorstellungen davon, wie der Idealbürger zu sein habe, nämlich gesund, geistig wie körperlich, leistungsstark und belastbar, ohne Neigung zur verderblichen Trunksucht - ganz einfach jemand, den man gut für den Aufbau der idealen sozialdemokratischen Gesellschaft verwenden konnte. Wer nicht in dieses Vorstellung vom Idealmenschen paßte, der hatte wenig Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben. Maria erging es schließlich genauso wie den anderen Mädchen in der Anstalt auch, sie wurde mit 16 Jahren sterilisiert. Zunächst wollte sie ihre Unterschrift verweigern, aber "dann, so sagten sie, würde ich für immer dort bleiben müssen!" Maria unterschrieb, wurde noch am selben Tag sterilisiert und durfte schließlich ein selbständiges Leben führen, zunächst als Magd, dann als Köchin in einem Krankenhaus.

Marias Geschichte ereignete sich schon in den vierziger Jahren, aber es dauerte noch drei Jahrzehnte, bis der schwedische Staat aufhörte, sich in das Sexualleben seiner Bürgerinnen einzumischen. 1950 setzt ein erstes Umdenken ein, als die Unesco den "Rassebegriff" öffentlich ächtete, aber noch bis 1970 wurden Sozialarbeiter und Familienfürsorger dazu angehalten, Personen, die sich ihrer Meinung nach nicht fortpflanzen sollten, zu melden, überdies konnten Krankenhausverwaltungen Frauen, die sich nicht sterilisieren lassen wollten, Abtreibungen verweigern.

Dabei waren die Zwangssterilisationen keine schwedische Erfindung, neben den 60 000 Schwedinnen trafen sie auch 40 000 Norwegerinnen und 6 000 Däninnen, sowie eine vergleichsweise geringere Zahl von Männern, neun von zehn Zwangssterilisierten waren Frauen. In Dänemark war ein entsprechendes Eugenik-Gesetz schon 1929 verabschiedet worden, Schweden folgte 1935. Zuvor hatte eine staatliche Kommission die vermehrten Ausgaben für die Pflege von Schwachen und Hilfsbedürftigen bemängelt und schlußfolgerte: "Daher ist es kein großer Schritt, die Geburt von Individuen, die sich selbst und anderen zur Last fallen werden, zu verhindern."

Diejenigen, die sich nach Auffassung der Sozialdemokratie besser nicht vermehren sollten, waren nicht nur Alkoholiker, Obdachlose und "mental Langsame", sondern auch Menschen, die nicht so aussahen wie vom Nationalen Institut für Rassenbiologie vorgeschrieben.

Die heute 72jährige Maria Nordin ist erleichtert, daß das Thema jetzt endlich, wenn auch zögernd in der schwedischen Öffentlichkeit diskutiert wird. "Ich glaubte schon, daß diese Verschwörung zu schweigen für immer andauern würde. Ich habe nie anderen Menschen davon erzählen können, was mit mir damals passiert ist - niemand hätte es verstanden, bis jetzt." Die geschiedene Stockholmerin hatte im letzten Jahr immerhin Schadenersatz vom schwedischen Staat verlangt, umgerechnet 25 000 Mark. Damals war dies abgelehnt worden, nun hat Sozialministerin Margot Wallström allen Opfern in der letzten Woche Entschädigung angeboten.