Geht doch nach drüben! Hiergeblieben!

Mal abgesehen davon, daß die BRD, deren Sicherheitsorgane nicht nur an Oder und Neiße, in Stammheim und Bad Kleinen, mit Phillip Müller und Halim Dener einige Menschenleben auf dem Gewissen haben dürften, gewiß der falsche Staat ist, von dem sich Linke politisch-moralische Lektionen erteilen lassen sollten; mal abgesehen davon, daß die DDR objektiv der bessere deutsche Staat war, in dem Großkapitalisten und Junker - mithin die materielle Basis des deutschen Faschismus - enteignet wurden, sollten KommunistInnen dennoch nicht jenen unbequemen Fragen ausweichen, die im Zusammenhang mit den Toten an der Mauer - erwähnt seien auch explizit jene Grenzsoldaten, die von westlicher Seite aus getötet wurden - zu stellen sind.

Was dabei allerdings die Angeklagten im Berliner Politbüro-Prozeß zu bieten haben, ist schlicht jämmerlich, selbst wenn man der Meinung ist, daß ein Siegerjustiz-Tribunal der falsche Ort für eine selbstkritische Auseinandersetzung ist. Während Kleiber findet, mit der ganzen Sache nichts zu tun zu haben, Schabowski meint, von nichts gewußt zu haben, versteckt sich Krenz hinter dem russischen Ofen. Die DDR sei in dieser Frage nicht souverän gewesen, sondern nur Befehlsempfängerin Moskaus. Selbst wenn, hieße das, daß Menschen - hochrangige politische Entscheidungsträger zumal - keine persönliche Verantwortung zu tragen haben, wenn sie Weisungen ausführen? Eine Ausrede, die Linke mit gutem Grund ablehnen sollten.

Die Verantwortung an Moskau abzugeben, ist auch aus anderen Gründen fadenscheinig. Jedes DDR-Kind wußte, daß sich das Grenzregime nicht nur nach außen, sondern in erster Linie nach innen richtete. Beliebtes volkswirtschaftliches Argument, mit dem der Massenexodus in ND und Stabü gegeißelt wurde: Unser sozialistischer Staat hat so viel in die Ausbildung seiner Bürger investiert, da können die doch nicht einfach abhauen. Sind StaatsbürgerInnen - noch dazu in einer Gesellschaftsordnung, die die Abschaffung von Staaten zum Ziel hat - Eigentum des Staates, die unmündigen Kindern gleich unter Stubenarrest gestellt werden müssen? Staatspaternalistische Antwort: Wir wollen doch ihr Bestes, und im Westen erwartet sie sowieso kein schöneres Leben, sondern Arbeits- und Obdachlosigkeit. Wenn schon? Wenn "sozialistische Persönlichkeiten" diese einfache Wahrheit nicht begreifen wollten, was war bereits schiefgelaufen zwischen Regierung und Bevölkerung? Kam der Vertrauensverlust der Untertanen in den Staat nicht vielmehr daher, daß auch sonst riesige Lücken zwischen Propaganda und Realität - von Planerfüllung bis Meinungsfreiheit - klafften?

Und: Was war das überhaupt für ein Straftatbestand - Republikflucht? Warum sollten beispielsweise junge Männer - wenn ihnen der bessere Staat subjektiv als ziemlich schlecht erschien - nicht ihr "Heimatland" verlassen, wenn sie keine Neigung verspürten, sich in einer preußischen Armee deutsche Sekundärtugenden andrillen zu lassen? Warum ist denn die Nazi-Dichte im Osten größer als im Westen? Liegt alles an der Arbeitslosigkeit, obwohl die - einfacher empirischer Gegenbeweis - in Westberlin oder Bremen höher ist als in Ostberlin oder Brandenburg?

Warum war die DDR nicht souverän genug, mit Brecht zu sagen: Wer da gehen will, soll gehen? Weil man dann realpolitisch keinen realsozialistischen Staat mehr hätte machen können? Na und! Mit den Sachzwängen "Blockkonfrontation" damals und "Weltmarkt" heute jedenfalls läßt sich alles rechtfertigen. Linkssein - zumal in mit Macht ausgestatteter Position - aber heißt, angebliche Sachzwänge immer wieder zu hinterfragen und nicht als gottgegeben anzuerkennen.