Montag, 02.09.2024 / 13:13 Uhr

Lage der jüdischen Gemeinde in Tunesien verschlechtert sich

Große Synagoge in Tunis, Bildquelle: Wikimedia Commons

Die Lage der jüdischen Gemeinschaft in Tunesien angesichts des wachsenden Antisemitismus im Land

 

Die jüdische Gemeinschaft in Tunesien, eine der ältesten in der arabischen Welt, steht vor erheblichen Herausforderungen angesichts eines zunehmend schwierigen sozialen und politischen Klimas. Historisch gesehen hat diese Gemeinschaft sowohl Perioden der Koexistenz als auch der Diskriminierung erlebt. Aktuell jedoch gibt es Spannungen, die auf tiefere soziale Vorurteile und komplexe politische Dynamiken zurückzuführen sind.

Historische Wurzeln des Antisemitismus in Tunesien

Historisch reicht die jüdische Präsenz in Tunesien bis in die Römerzeit zurück, und im 20. Jahrhundert zählte die Gemeinschaft zeitweise mehr als 100.000 Mitglieder. Die Unabhängigkeit Tunesiens 1956 markierte einen Wendepunkt, da die Regierung unter Habib Bourguiba keine explizit antisemitische Politik verfolgte. Dennoch führte die „Arabisierung“ des Landes in den 1960er Jahren zur Marginalisierung jüdischer Menschen, was viele zur Emigration veranlasste und die Gemeinschaft verkleinerte.

In den 1960er Jahren, insbesondere nach dem Sechstagekrieg 1967, kam es in vielen arabischen Ländern, einschließlich Tunesien, zu einer Welle des Antisemitismus. Die Gewalt gegen jüdische Gemeinschaften nahm zu, und viele Juden sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen. Dies führte zu einem erheblichen Rückgang der jüdischen Bevölkerung in Tunesien, die heute auf etwa 1.500 Menschen geschrumpft ist.

Politische Instrumentalisierung und internationale Einflüsse

Die zunehmenden antisemitischen Tendenzen in Tunesien können nicht nur auf historische Vorurteile zurückgeführt werden. Vielmehr spielt auch die politische Instrumentalisierung dieser Vorurteile eine zentrale Rolle. Seit der Unabhängigkeit wurde die jüdische Gemeinschaft immer wieder als Sündenbock für interne Probleme benutzt, insbesondere während politischer und wirtschaftlicher Krisen.

Während der ersten Intifada im Jahr 1987 und der zweiten Intifada im Jahr 2000 verschärfte sich der Antisemitismus in Tunesien erheblich. Die tunesische Regierung brach 2000 offiziell die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, was zu einer Zunahme von anti-israelischen und oft auch antisemitischen Äußerungen in der Öffentlichkeit führte. Diese Verschlechterung des Klimas gegenüber der jüdischen Gemeinschaft wurde oft durch politische und religiöse Führer geschürt, die antisemitische Rhetorik als Mittel zur Förderung nationalistischer und islamistischer Agenden nutzten.

Ein weiterer Schlüsselmoment war der Bombenanschlag auf die El-Ghriba-Synagoge auf Djerba im Jahr 2002, bei dem 21 Menschen starben, darunter 14 deutsche Touristen. Der Anschlag, der von Al-Qaida verübt wurde, zeigte, wie externe terroristische Organisationen lokale antisemitische Stimmungen anheizen und für ihre Zwecke nutzen können. Dieser Angriff markierte einen Wendepunkt und erhöhte das Sicherheitsbedenken innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.

Antisemitismus unter der Präsidentschaft von Kais Saied

Seit dem Amtsantritt von Präsident Kais Saied im Oktober 2019 hat sich die Lage der jüdischen Gemeinschaft weiter verschlechtert. Saied hat mehrfach Aussagen gemacht, die als antisemitisch anzusehen sind. Er beschuldigte Israel, sich im Krieg mit der gesamten muslimischen Welt zu befinden, und kritisierte vehement jede Form der Normalisierung von Beziehungen zu Israel. Dies führte zu einer Verschärfung der öffentlichen Rhetorik und zu einer Zunahme von Feindseligkeiten gegenüber Juden in Tunesien.

Unter Saieds Regierung hat die Verknüpfung von Antizionismus und Antisemitismus neue Höhen erreicht. Seine Äußerungen, dass jede Normalisierung mit Israel Verrat an der arabischen Ummah und am palästinensischen Volk sei, haben ein Klima geschaffen, in dem jüdische Tunesier zunehmend als potentielle „Verräter“ betrachtet werden. Diese Verknüpfung von politischem Diskurs und religiösen Narrativen hat zur Radikalisierung bestimmter Gruppen beigetragen, die sich gegen die jüdische Gemeinschaft richten.

Zunehmende antisemitische Vorfälle und gesellschaftliche Spannungen

Der Angriff auf die El-Ghriba-Synagoge in Djerba im Mai 2023, bei dem ein tunesischer Nationalgardist fünf Menschen tötete, darunter zwei jüdische Personen, zeigt die wachsende Unsicherheit und Bedrohung, der sich die jüdische Gemeinschaft in Tunesien ausgesetzt sieht.

Ein neuer Höhepunkt antisemitischer Gewalt und Rhetorik wurde am 7. Oktober 2023 erreicht, als ein antisemitischer Terroranschlag auf Israel weltweit eine Welle antisemitischer Reaktionen auslöste, einschließlich in Tunesien. Die Angriffe auf jüdische Einrichtungen und der Anstieg antisemitischer Äußerungen in der Öffentlichkeit verdeutlichen eine wachsende Feindseligkeit. Die Eskalation nach dem 7. Oktober 2023 zeigt, wie externe Konflikte lokale Minderheiten negativ beeinflussen können. Internationale Spannungen, insbesondere der Israel-Palästina-Konflikt, haben in Tunesien zu einer verstärkten Mobilisierung antisemitischer Ressentiments geführt. Die Zerstörung der Al-Hammah-Synagoge, die Verbreitung antisemitischer Parolen und die verstärkte Überwachung und Diskriminierung jüdischer Unternehmer verdeutlichen die Bedrohung, die die jüdische Gemeinschaft in Tunesien derzeit erlebt.

Solche Vorfälle spiegeln die tieferliegenden Spannungen wider, die durch eine Mischung aus politischen, religiösen und sozialen Faktoren verschärft werden. Die Reaktion der tunesischen Regierung auf diese Vorfälle, die oft in der Vermeidung einer klaren Verurteilung antisemitischer Gewalt besteht, trägt zur Eskalation bei und ermutigt extremistische Elemente innerhalb der Gesellschaft.

Soziale und kulturelle Folgen des wachsenden Antisemitismus

Die gegenwärtige Situation hat nicht nur direkte Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft in Tunesien, sondern auch auf die gesamte tunesische Gesellschaft. Die zunehmende Radikalisierung und die autoritäre Tendenz der aktuellen Regierung bedrohen nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern auch andere Minderheiten und oppositionelle Gruppen. Die Instrumentalisierung des Antisemitismus als politisches Werkzeug deutet darauf hin, dass die Regierung möglicherweise autoritärere Maßnahmen ergreifen wird, um ihre Macht zu festigen.

Für die jüdische Gemeinschaft in Tunesien bedeutet die derzeitige Lage eine erhebliche Bedrohung. Die wachsende Unsicherheit und die Angst vor weiteren Angriffen könnten zu einer erneuten Emigration führen, was die Gemeinschaft weiter dezimieren würde. Dies wäre nicht nur ein Verlust für die kulturelle und religiöse Vielfalt Tunesiens, sondern könnte auch den sozialen Zusammenhalt des Landes gefährden.

Der wachsende Antisemitismus in Tunesien ist das Ergebnis einer komplexen Mischung aus historischen Vorurteilen, politischer Instrumentalisierung und internationalen Einflüssen. Die Ereignisse seit der ersten Intifada und besonders seit dem 7. Oktober 2023 haben die Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft erheblich verschärft.