Filmfestival in Locarno

Konstruierte Orte

Seite 2 – Zeugenschaft und Überformung

Eine zutiefst bittere Symbolik hat dagegen das Haus in Pedro Costas Film »Vitalina Varela« (2019), der zu Recht mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde. Seit vielen Jahren schon arbeitet der portugiesische Autorenfilmer an einer ­faszinierenden Synthese aus Zeugenschaft und cinematographischer Überformung. Costa filmt mit kleinem Team und ohne Drehbuch, die Geschichten entstehen in Zusammenarbeit mit den Protagonisten.

Meist sind diese Einwanderer aus den Kapverden, die in den Elendsvierteln von Lissabon hausen, Menschen wie Vitalina. Diese kommt drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes in Lissabon an, um die Dinge des Verstorbenen zu regeln, der sie vor vielen Jahren für ein vermeintlich besseres Leben zurückließ. Doch die Behausung inmitten des Ghettos ist elend: Knastartige Gemäuer, »Fenster wie Abflussgitter«, beim Duschen fällt Vitalina ein Stein auf den Kopf.

»Vitalina Varela« ist ein tiefschwarzer Film mit spärlichem Licht. Gesichter und Details werden aus der Dunkelheit herausmodelliert, Konturen verschwinden. Themen wie Migration und diasporische Identität sind in dem Film schmerzhaft anwesend, ohne dass sie in den Dramaturgien des Erzählkinos verhandelt werden müssten. Vitalina registriert voller Trauer und Zorn die Verwahrlosung der Männer, ihre Lieblosigkeit, ihre Abwesenheit. Im Selbstgespräch rekonstruiert sie aus der ­Erinnerung ein Haus auf den Kapverden. Es ist anders als das Loch in Lissabon: solide, aus Ziegeln gebaut. Ein Dach über dem Kopf, das ein Leben in Würde versprach.