Vor 120 Jahren ermordete ein Anarchist die Kaiserin von Österreich

Rache fürs eigene Leben

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Elisabeth war ursprünglich nicht sein primäres Ziel, sondern lediglich Ersatz für den Prinzen Henri Philippe Marie d’Orléans, der drei Jahre später an einem Leberleiden versterben sollte. Der Prinz hatte seine Genf-Pläne kurzerhand geändert, so dass ein Attentat auf ihn nicht zustande kam – wie auch schon ein früherer Mordversuch Luchenis an König Umberto I. aus Rache für die blutige Niederschlagung eines Streiks gescheitert war. Getreu dem Postulat Ravachols »Keiner ist unschuldig!« traf es daher eine andere Angehörige der verhassten Aristokratie. ­Lucheni sagte: »Der große Bakunin hat uns den Weg gewiesen. (…) Ich glaube an die Propaganda der Tat, und Tausende von Männern denken wie ich!« Statt einen Aufstand auszulösen, ern­tete seine Tat fast ausschließlich Abscheu und Ablehnung. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, der zu jener Zeit in Österreich verweilte, bezeichnete die Wirkung der Tat in seinem Essay »The memorable assassination« als gewaltig. »Nicht einmal der Mord an Caesar vermochte die Welt so zu erschüttern wie der an Elisabeth.«

Das Attentat machte Elisabeth, die kurz zuvor wiederholt ihre Todessehnsucht geäußert hatte, unsterblich und zum Mythos. Ein Mythos, den das deutsche Fernsehen durch die kitschige, bevorzugt zur Weihnachtszeit gezeigte Filmtrilogie mit Romy Schneider in der Hauptrolle regelmäßig reproduziert. Ihr Lächeln verzaubert immer noch die Zuschauer und bedient den Traum, eine Prinzessin zu sein. Luchenis Tat und die dahinterstehenden Beweggründe sind hingegen in den Filmen ausgeklammert worden.

Der Italiener Lucheni, der kurz nach seiner Geburt in ein Pariser Waisenhaus gegeben wurde, diente mehrere Jahre beim Militär und wurde danach zu einem kosmopolitischen Vagabunden. Die Versprechen, die man den Soldaten für die Zeit nach dem Dienst gab, erwiesen sich als falsch. Er fand keine Anstellung und lebte als Hilfsarbeiter von der Hand in den Mund. In dieser Zeit kam er mit dem Anarchismus in Kontakt – nur wenige Monate vor dem Attentat auf Kaiserin Elisabeth. Er versuchte die neu angenommene Lehre konsequent zu leben – hier in der Anwendung des Bakunin’schen Pos­tulats der »Propaganda der Tat«. Vor Gericht erklärte er: »Es lebe die Anarchie! Nieder mit den Aristokraten!« Man verurteilte ihn zu lebenslanger Haft im Genfer Gefängnis Evêché. Im Gefängnis versuchte man ihn zu isolieren. Er durfte nicht an Gemeinschaftsveranstaltungen teilnehmen, sondern musste die ihm zugeteilten Arbeiten alleine in der Zelle absolvieren. Das beabsichtigte Ziel war es, ihn und seine Tat in Vergessenheit geraten zu lassen.

Doch Lucheni nutzte die Haftzeit, um sich weiterzubilden. Er las viel und ­intensiv – allerdings nicht die anarchistische Literatur.

Zwischen 1907 und 1909 begann er seine Memoiren zu verfassen, in denen er Rechenschaft über sein Handeln ablegen wollte. Jean-Jacques Rousseaus »Bekenntnisse« sollen hierfür Pate gestanden haben, aber es gibt daneben auch eine lange Tradi­tion der Memoiren von Krimi­nellen. Beispielhaft sind das große und das kleine Testament von François Villon, und die »Memoires« von Pierre-Francois Lacenaire, dem später das französische Kino mit »Kinder des Olymp« ein filmisches Denkmal setzte.

In Luchenis fragmentarischen Erinnerungen fehlt die Bezugnahme auf den Anarchismus allerdings. Wie durch eine spätere Aussage belegt, scheint sich die Begründung für seine Tat gewandelt zu haben – »Mich für mein Leben rächen!« – im Gegensatz zur ersten Begründung, kurz nach der Tat: »Ich habe sie ermordet, weil ich Anarchist bin!«

Die Entwürfe für seine Memoiren wurden von einem Gefängniswärter gestohlen, so dass Lucheni das Interesse an einer Fortführung verlor. Er beklagte den Diebstahl und beschwerte sich darüber. Am 19. Oktober 1910 fand man ihn erhängt in seiner Zelle auf. Alles deutet auf einen Selbstmord hin. Bis zur Veröffentlichung seiner Erinnerungen vergingen über 70 Jahre. Erstmals zum 100. Todestag von Elisabeth – im Jahre 1998 – tauchten die Memoiren wieder auf und gaben einen anderen Blick auf den häufig verteufelten oder von Autoren wie Jean Cocteau literarisch mystifizierten Täter frei.

Lucheni steht beispielhaft für eine Generation von (unorganisierten) ­Anarchisten im ausgehenden 19. Jahrhundert, die aus der Arbeiterklasse stammten und durch ihre Taten eine Beschleunigung des revolutionären Prozesses erhofften oder sich für ihr Schicksal an den vermeintlich Schul­digen rächen wollten. Sein tragisches Scheitern, das sich auch im heutigen Sissi-Mythos zeigt, den er wider Willen mitinitiierte, führt das Scheitern der insurrektionalistischen Strömung vor, die bereits seinerzeit von vielen Anarchistinnen und Anarchisten als Fehlentwicklung gegeißelt wurde. Sein Ruhm als Attentäter war von kurzer Dauer – selbst in den neueren Darstellungen des Anarchismus des 19. Jahrhunderts taucht sein Name, wenn überhaupt, nur als Fußnote auf.
Nur im Labor war Lucheni noch von Interesse: Der Genfer Professor Louis Mégevand trennte nach seinem Tod den Kopf vom Körper und sägte Luchenis Schädeldecke auf, um nach abnormen Gehirnwindungen zu forschen. Zu ­seiner Enttäuschung fand er jedoch nichts Auffälliges.