Soldaten aus Frankreichs Kolonien befreiten Marseille von den Nazis

Die Befreiung von Marseille

Im Juni feierte Marseille den 80. Jahrestag der Befreiung von den »Boches«. An der Befreiung Frankreichs nahmen auch 150.000 Soldaten aus den Kolonien teil, deren Rolle in Frankreich lange verdrängt wurde.

Kampfjets malen die Trikolore in den Himmel, Fallschirmspringer landen, Männer in historischer Militärkleidung lenken alte Panzer und Fahrzeuge zum Klang der Militärkapelle über den Quai de la Fraternité. Am 6. Juni erinnern am Alten Hafen von Marseille überall Plakate an das Ende der deutschen Besatzung vor 80 Jahren.

Derartige Paraden zur Feier des Siegs über Nazi-Deutschland wurden in Frankreich in diesem Sommer überschattet durch den nur knapp verhinderten Wahlsieg von Marine Le Pens rechtsextremer Partei Rassemblement national (RN) bei der Parlamentswahl wenige Wochen später. Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, der den Front national, wie der RN bis 2018 hieß, jahrzehntelang führte, hatte die Partei 1972 mit Gefolgsleuten des Vichy-Regimes gegründet, das weit mehr an der Judenverfolgung und Deportation mitgewirkt hatte, als die Nazis es gefordert hatten. Berüchtigt waren Le Pen und seine Gefolgschaft für die Verharmlosung der deutschen Besatzung und die Bagatellisierung der Shoah bis hin zur Verleugnung.

Panzer bei historischer Militärparade am Alten Hafen von Marseille, 6. Juni

Historische Militärparade am Alten Hafen von Marseille, 6. Juni

Bild:
Alex Carstiuc

Antisemitismus zeigt sich bei der Parlamentswahl noch mehr im linken Lager. Jean-Luc Mélenchon, der sich nicht erst seit den Hamas-Massakern vom 7. Oktober offen antisemitisch äußert, und seine Partei La France insoumise (LFI) haben Marseille zu ihrer Basis erklärt.

Marseille wurde nach der voll­ständigen Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht im November 1942 zu einem Schauplatz der Kämpfe von Besatzern und Kollaborateuren mit dem Widerstand.

Der RN-Vorsitzende Jordan Bardella, ein politischer Ziehsohn von Marine Le Pen, der auch Spitzenkandidat des RN bei der Europawahl im Juni war, stellte im Wahlkampf die erinnerungspolitischen Grundfesten der Fünften Republik in Frage, als er den Résistance-Helden Jean Moulin verächtlich machte. Dieser hatte 1943 verschiedene Résistance-Untergruppen zu einer schlagkräftigen Organisation zusammengeführt und war kurz darauf mit zahlreichen zentralen Résistance-Kämpfern verraten worden; der berüchtigte Gestapo-Kommandeur Klaus Barbie folterte ihn in Lyon zu Tode.

Nur einem aus dem inneren Zirkel, Raymond Aubrac, den seine Frau Lucie aus dem Kerker befreit hatte, war es vergönnt, an der Siegesparade 1944 in Marseille teilzunehmen. Der von einer langwierigen Beweisführung begleitete Prozess gegen Klaus Barbie brachte 1987 die in der Nachkriegszeit gehegten Mythen eines durchweg widerständigen Frankreichs ins Wanken.

Exil und Fluchtstadt Marseille

Marseille ist einem deutschsprachigen Publikum vor allem als Exil und Fluchtstadt bekannt. Bücher wie Anna Seghers Roman »Transit«, Varian Frys Bericht »Auslieferung auf Verlangen« oder Uwe Wittstocks kürzlich erschienene Studie »Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur« tragen dazu bei. Marseille wurde jedoch nach der vollständigen Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht im November 1942 zu einem Schauplatz der Kämpfe von Besatzern und Kollaborateuren gegen den Widerstand.

Die Wehrmacht ermordete in Zusammenarbeit mit der SS und den Vichy-Behörden Tausende Menschen. Im Januar 1943 wurde das alte Hafenviertel Le Panier größtenteils gesprengt, Tausende Bewohner wurden interniert und über 1.600 in Konzentrationslager deportiert. Darunter befanden sich fast 800 Juden, die später in Vernichtungslager gebracht und ermordet wurden. Den Nazis war die alte mediterrane Hafenstadt mit dem Geflecht an kleinen unübersichtlichen, überfüllten Gassen und dem bunten Treiben der gemischten Bevölkerung der Inbegriff eines Widerstandsnests, das es zu zerstören galt.

Dabei diente Marseille als Laboratorium für die Zusammenarbeit der korsischen Mafia mit der deutschen Sicherheitspolizei und der Gestapo, die sich gegenseitig an Brutalität überboten. Für diese Kooperation des Schreckens stand namentlich der 1950 in Marseille hingerichtete SS-Oberscharführer Ernst Dunker, der über ein großes Netzwerk an französischen Agenten verfügte, darunter Mitglieder der kriminellen Unterwelt.

Viele Soldaten stammten aus den damaligen Kolonien

Der französischen Gesellschaft feiert mit der Befreiung der Provence auch die eigenen Streitkräfte, weil im Gegensatz zur Landung in der Normandie Zehntausende französischer Soldaten an ihr beteiligt waren. So waren von etwa 160.000 Soldaten, die am 6. Juni 1944 in der Normandie landeten, nur 177 Franzosen. Bei der Landung zweier alliierter Armeen zwischen Toulon und Cannes, die am 15. August 1944 begann, lag der Anteil der Franzosen hingegen bei 40 Prozent der insgesamt eingesetzten knapp 200.000 eingesetzten Soldaten.

Viele stammten allerdings aus den damaligen Kolonien Algerien, Marokko oder Westafrika, während ihre Offiziere und viele Unteroffiziere Franzosen des Mutterlands waren. Frankreich hatte seine Kolon­ial­­soldaten bereits auf dem italienischen Kriegsschauplatz an besonders verlustreichen Frontabschnitten eingesetzt.

Transporter bei historischer Militärparade am Alten Hafen von Marseille, 6. Juni
Bild:
Alex Carstiuc

Nach dem Krieg verweigerte man ihnen dessen ungeachtet Renten und Entschädigungen. Im Gegensatz zu den »Harkis« genannten Algeriern, die im Algerien-Krieg (1954–1962) auf französischer Seite gekämpft hatten, erhielten sie nach dem Krieg auch nicht das Bleibe- und Aufenthaltsrecht in Frankreich. Insgesamt 150.000 Kolonialsoldaten nahmen an der Befreiung Frankreichs teil und kämpften in der freifranzösischen Armee.

Nur zögerlich begann man in der Nachkriegszeit, an sie und ihre Geschichte zu erinnern. In Marseille wird ihrer auf einigen Tafeln gedacht, seit 2012 auch an einem Memorial zur Befreiung des Hügels der Kirche Notre-Dame de la Garde.

Verlustreicher Aufstand der Résistance 

Mit den Landungsoperationen an der Côte d’Azur begann die Résistance ihren verlustreichen Aufstand gegen die deutschen Besatzer und die Vichy-französische Miliz. Dass ihre Mitglieder nicht selten Juden und Ausländer waren, berücksichtigte die französische Geschichtsschreibung lange Zeit kaum. Die Überführung des armenischen Kommunisten Missak Manouchian im Fe­bruar dieses Jahres in den Panthéon in Paris markierte eine veränderte öffentliche Wahrnehmung. Er war Organisator einer in Paris operierenden Résistance-Gruppe und der erste Ausländer, den Frankreich in seine nationale Erinnerungsstätte aufnahm. Marseille ehrt ihn bereits seit 1984 mit einer Büste in einem nach ihm benannten kleinen Park nahe dem Alten Hafen.

Im Marseiller Hafenviertel Le Panier, das die Nazis 1943 zerstörten, erinnerten anlässlich der diesjährigen Befreiungsfeier Schautafeln an die Befreier der Stadt, die die Deutschen am 28. August 1944 zur Kapitulation zwangen, insbesondere auch an die Soldaten aus dem subsaharischen Afrika und Algerien sowie an Mitglieder der Résistance.

Die Stadt Marseille nahm im Zuge der diesjährigen Feierlichkeiten einen Film, der schonungslos die widersprüchlichen Facetten der französische Résistance darstellt, in ihr offizielles Programm auf: »Armee im Schatten« von Jean-Pierre Melville.

Paradigmatisch für die Verdrängung unliebsamer Seiten der französischen Geschichte steht der Umgang mit zwei Filmen, die bis Ende der Achtziger in Frankreich nicht in den Kinos gezeigt wurden: »Die Schlacht um Algier« (1966) des italienischen Filmemachers Gillo Pontecorvo, der die Folterpraxis und den Terror der französischen Armee im Algerien-Krieg thematisierte, sowie Marcel Ophüls »Das Haus nebenan« (1969). Dieser dokumentarische Film zeigt anhand von zahlreichen Interviews die Beteiligung der französischen Bevölkerung – am Beispiel der Stadt Clermont-Ferrand – an der Besatzung, Kollaboration und Verfolgung der Juden in Frankreich.

Die Stadt Marseille nahm im Zuge der diesjährigen Feierlichkeiten einen Film, der schonungslos die widersprüchlichen Facetten der französische Résistance darstellt, in ihr offizielles Programm auf: »Armee im Schatten« von Jean-Pierre Melville. Der jüdische Filmemacher verarbeitete darin seine eigenen Erfahrungen im französischen Widerstand, nicht zuletzt in Marseille. Melville hatte ab 1943 auch in der regulären Uniform der Freien Französischen Streitkräfte in Italien und später in der Provence gekämpft. Sein Film, der auf einem von Joseph Kessel 1943 in London geschriebenem Roman beruht, bekam bei seinem Erscheinen 1969 keine guten Kritiken.

Dass dieses düstere Meisterwerk nun öffentlich auf einer Großleinwand gezeigt wurde, und das in jenem Teil des alten Hafenviertels, der von den Deutschen und ihren französischen Helfern nicht zerstört worden war, ist eine späte Hommage.