Besuch bei einem ehemaligen McDonald’s-Imbiss, der von den Angestellten übernommen wurde

Das gallische Dorf von Marseille

Im Norden Marseilles haben ehemalige Angestellte von McDonald’s eine Filiale übernommen und mit Hilfe der Stadt ein eigenes Fast-Food-Restaurant eröffnet. Sie unterstützen die Menschen aus dem Viertel. Eine Angestellte berichtet aber auch von Konflikten.

Vom Marseiller Hauptbahnhof Saint-Charles sind es mit dem Bus 25 Minuten nach Sainte-Marthe. Der Stadtteil liegt im 14. Arrondissement und gehört zu den quartiers nord, den berüchtigten Bezirken am nördlichen Rand Marseilles. Etwa ein Drittel der gesamten Stadtbevölkerung lebt hier. Jeder Fünfte ist arbeitslos. Die Gegend gehört zu den ärmsten im Land. Sainte-Marthe aber ist auch für seine Seifenfabrik bekannt; eine der letzten verbliebenen in Marseille. Und Paul Ricard ist hier geboren, der Schöpfer des berühmten Anis-Aperitifs Pastis Ricard. Sein Wohnhaus, das um 1850 im neoklassizistischen Stil errichtete Château Ricard, beherbergt seit vergangenem Jahr eine Kinderklinik.

Sainte-Marthe hatte ursprünglich dörflichen Charakter. Mitte der sechziger Jahre fehlte es der Stadt an Wohnraum, Menschen aus den ehemaligen Kolonien mussten schnell untergebracht werden. Also zog man in Sainte-Marthe Wohnblöcke bescheidenster Qualität hoch. An Lebensqualität dachte man nicht. Vom dörflichen Ursprung des Stadtteils zeugt nur noch, dass die Anwohner liebevoll von einem »Dorfplatz« sprechen, wenn sie das Fast-Food-Restaurant »L’Après M« (Nach M) am Kreisverkehr meinen; ein beliebter Treffpunkt in einem Viertel, in dem es sonst nicht viel gibt.

Wegen Steuererleichterungen ins Marseiller Brennpunktviertel

Ein Mitarbeiter ist sichtlich erfreut über das Interesse einer deutschen Zeitung. Für ein Gespräch hat er allerdings keine Zeit. »Selbst wenn ich nur fünf Minuten mit euch reden würde, müsste ich die Arbeit nachholen«, teilt er der Jungle World, den einzigen Gästen im Laden, mit. Man könne einen Kontakt hinterlegen, dann werde sich jemand melden.

Berichte über das Fast-Food-Restaurant lesen sich meist ähnlich. Sie erzählen die Erfolgsgeschichte einer ehemaligen McDonald’s-Niederlassung und ihrer Angestellten. Hauptprotagonist: Kamel Guémari. Der ist allerdings gerade nicht da.

Frankreich ist für McDonald’s der wichtigste Markt in Europa. 1992 wollte die damalige sozialdemokratische Arbeitsministerin Martine Aubry Unternehmen mit Steuererleichterungen ins Marseiller Brennpunktviertel locken, um Arbeitsplätze zu schaffen. Mit Erfolg: 1992 eröffnete sie das erste McDon­ald’s-Schnellrestaurant in Sainte-Marthe, das 77 Arbeitsplätze bot.

Das Restaurant ist bekannt dafür, Menschen einzustellen, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben.

Die Filiale war damit der zweitgrößte Arbeitgeber im Viertel nach der Supermarktkette Carrefour. Einer der Beschäftigten war Guémari, der im Viertel geboren und aufgewachsen ist. Anderen Zeitungen berichtet er, seine Zukunftsaussichten hätten sich zuvor auf den Drogenhandel beschränkt. Mit 16 putzte er zunächst die Toiletten der Filiale, irgendwann verkaufte er Burger und stieg letztlich zum Restaurantleiter auf. Er trat einer Gewerkschaft bei, erkämpfte einen 13. Monatslohn und unbefristete Arbeitsverträge. Das gab es bei den anderen Filialen in Marseille nicht.

Die Filiale in Sainte-Marthe galt als »gallisches Dorf« – und sie war nicht profitabel. 3,3 Millionen Euro kumulierte Verluste beklagte das Unternehmen seit 2009 und wollte die Filiale deshalb 2018 schließen. Aus Angst vor der Perspektivlosigkeit kämpfte die Belegschaft dagegen an – erfolglos. 2019 wurde der letzte Burger in der McDon­ald’s-Filiale gebraten. Im März 2020 unterschrieben die meisten Angestellten ihre Auflösungsverträge. Guémari schlug die ihm angebotenen 700.000 Euro Abfindung aus.

Dann kam die Covid-19-Pandemie und mit ihr der Lockdown. Mit anderen schloss Guémari die Filiale wieder auf. Die Schlüssel waren ihnen nie abgenommen worden. Sie organisierten Lebensmittelverteilungen, ähnlich einer Tafel. Denen, die nicht kommen konnten, brachten Guémari und seine Mitstreiter Essenspakete nach Hause. Es entstand die Idee eines »Restaurant du peuple«, eine Art soziales Fast-Food-Restaurant. Die Stadt half, sie kaufte das Gebäude, statt es, wie es McDonald’s forderte, räumen zu lassen, und vermietete es an den Verein, der sich inzwischen gegründet hatte. Im Dezember 2022 wurde »L’Après M« eröffnet.

Wie eine McDonald’s-Filiale

Das Restaurant sieht noch immer aus wie eine McDonald’s-Filiale und funktioniert auch wie eine. Eine Mitarbeiterin findet sich dann doch, die der Jungle World ihre Sicht auf das Unternehmen mitteilen möchte: Marija Bogdanovych kommt aus Charkiw im Nord­osten der Ukraine und lebt seit zwei Jahren in Marseille. Als ihr Französisch nach etwa einem halben Jahr gut genug gewesen sei, habe ihr das Arbeitsamt empfohlen, sich bei »L’Après M« zu bewerben. »Sie wussten, dass ich hier genommen werde«, sagt sie auf Russisch.

Das Restaurant ist bekannt dafür, Menschen einzustellen, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben. Viele sind mit einem contrat aidé beschäftigt, bei dem der Staat einen Teil des Gehalts oder der Sozialabgaben übernimmt. Zunächst sei sie »Mädchen für alles« gewesen, erzählt Bogdanovych. Sie habe sich ausgenutzt gefühlt.

Mit der Zeit habe sie sich aber hochgearbeitet und mehr Verantwortung übernommen. Darum darf sie mit der Presse reden und sich fotografieren lassen. Letzteres macht ihr sichtlich Spaß. »Ich bin Influencerin und Bloggerin«, sagt sie stolz und zeigt ihr Instagram-Profil. Der Mitarbeiter, der anfangs zu viel zu tun hatte, beobachtet das Gespräch skeptisch.

Bogdanovych berichtet auch von Konflikten: »Die sind alle so emotional.« Mitarbeiter kämen und gingen. Das sorge für Stress, sagt sie. 

Es sind die Details, die »L’Après M« von McDonald’s unterscheiden. Wer nicht zahlen kann, muss nicht zwangsläufig hungern. Man kann »aufgeschobenes« Essen kaufen: einer zahlt, ­damit ein anderer später essen kann. Allerdings liege es im Ermessen des ­jeweiligen Schichtleiters, wer das schon bezahlte Essen bekommt, erklärt Bogdanovych. Ihr sei bereits aufgefallen, das manche großzügiger als andere seien. Und jeden Montag werden, wie damals, als alles anfing, Lebensmittel verteilt, die in einem Container auf dem Parkplatz gelagert werden. Langfristig ist zudem In Kooperation mit Studierenden der Universität Aix-Marseille eine kostenlose Rechtsberatung geplant.

Bogdanovych berichtet aber auch von Konflikten: »Die sind alle so emotional.« Mitarbeiter kämen und gingen. Das sorge für Stress, sagt sie. Auch die Einstellungspraxis führt ihrer Meinung nach zu Problemen. Nach insgesamt zwei Jahren will sie das Restaurant verlassen. Dann kann sie Arbeitslosengeld beziehen. Ihr großer Wunsch ist es, nach Monaco zu gehen und sich selbständig zu machen. Sie habe gelernt, mit sich in einen inneren Dialog zu treten. Das wolle sie nun anderen beibringen, »damit die Wünsche Realität werden«. Auf die Frage, was sie vor ihrer Zeit bei »L’Après M« gemacht habe, antwortet sie trocken: »Ja, nichts. Ich habe das Leben genossen.«