Am DJ-Pult im Freien kämpft der analoge Mann mit den Naturgewalten

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Durch den Wind

»Sorry, das ist nun mal analog!« rufe ich den wartenden Leuten auf der Tanzfläche zu. Der Wind hat den Tonarm von der Platte gefegt. Ich beschwere ihn mit einem Ein-Cent-Stück, das ich mit doppelseitigem Klebeband befestige. Fröhlich rufe ich: »Nochmal!« und spiele die Platte wieder von Anfang an.

Es ist erst das zweite Mal, das ich in diesem Jahr wieder auf dem Tempelhofer Feld auf­lege. Im vorigen Sommer war ich fast jedes Wochenende hier. An das Auf­legen im Freien muss ich mich erst wieder gewöhnen. Zumindest habe ich mich am Vormittag gründlich auf mein DJ-Set vorbereitet, stundenlang Platten ausgewählt und den Akku von Plattenspieler und Powerbank aufgeladen. Aber ich habe meinen Hut vergessen. Jetzt sitze ich in der prallen Hitze. Mein Kopf glüht. Zum Glück gibt mir jemand etwas Sonnencreme.

Gleich beim ersten Track fegt der Wind das herumliegende Cover auf die gerade laufende Platte. Krrrch! Mist!

Etwas später werde ich gefragt, ob ich tanzen möchte. Eigentlich geht das nicht, denn ich lege mit nur einem Plattenspieler lauter Singles auf und kann mein DJ-Pult deshalb kaum verlassen. Zum Glück habe ich auch eine Handvoll LPs mitgebracht, wie das 2019er-Album von Ray Collins’ Hot-Club »When Night Comes to Berlin«, zu dem ich tanze. Aber gleich beim ersten Track fegt der Wind das herumliegende Cover auf die gerade laufende Platte. Krrrch! Mist! Ich laufe schon los Richtung Plattenspieler, da springt der Tonarm von selbst zurück auf die Platte. Alle tanzen weiter, ich auch. Nach zwei Songs sitze ich wieder an meinem Tisch und ziehe Singles aus meiner Box. Eine Mutter mit ihrem etwa zehnjährigem Sohn setzt sich zu mir. »Er interessiert sich für deinen Plattenspieler«, sagt sie.

Er guckt mich nicht an, aber ich erkläre ihm unbeirrt die verschiedenen Geschwindigkeitsstufen: »Es gibt 78, 33 und 45 Umdrehungen. Bei 78 klingt die Stimme wie Micky Maus, bei 33 totaaaal langsam und bei 45 normal. Soll ich mal zeigen?« Er nickt amüsiert. Ich lege Duke Ellingtons »Duke’s Place« auf, ein Favorit des Veranstalters, der zufällig auch auf der Tanzfläche steht. Ich schalte auf 78. »Come on down to Duke’s Place«, singt Ozzie Bailey mit Micky-Maus-Stimme. Alle warten auf der Tanzfläche und gucken überrascht. Der Junge lacht. Dann schalte ich auf 33. Gaaanz laangsam läuft die Platte auf dem Plattenteller. »Siehste, das geht mit Spotify nicht!« sage ich. Der Veranstalter guckt mich genervt an und rollt mit den Augen. Dann schalte ich auf 45, und sofort fangen alle an zu tanzen.

Als ein paar Songs später mitten im Song der Plattenspielerakku stirbt, schließe ich umgehend die Powerbank an. Eine halbe Minute später geht es weiter. Ich unterhalte mich mit einem Tänzer über Musik. »Ich habe mir unlängst eine Playlist mit tanzbaren Bebop-Stücken gemacht«, sagt er. »Ja, das ist gar nicht so einfach. Vieles ist ja auch extra untanzbar gemacht. Zum Beispiel Ella Fitzgeralds ›Ich fühle mich crazy‹«, antworte ich. Ich ziehe die Single aus der Box und zeige sie ihm. »Spiel doch mal«, sagt er. Ich zögere: »Nee, das killt den Dancefloor.« »Meinste?« fragt er. Ich weiß es und lege die Platte dennoch auf.

Das Stück beginnt mit einem Midtempo-Latin-Teil. Die Tanzfläche ist voll, noch tanzen einige. Die meisten zögern. Dann beginnt ein rasend schneller Teil, in dem Ella Fitzgerald scattet und radebrechend auf Deutsch singt: »Ich fühle misch crazy, uh-ih-uh-ih-uh-ui!« Ratlose Gesichter und verzweifeltes Rumgehampel. Im letzten Teil, einem Blues, zerfällt es auf der Tanzfläche endgültig. »Siehste, killt den Dancefloor.«, sage ich. Dann lege ich den abgenudeltsten Hit überhaupt auf, »Hit the Road Jack« von Ray Charles, und sofort ist die Tanzfläche wieder voll. Alle tanzen, als wäre nichts gewesen.

Um acht Uhr endet mein Set und eine junge Frau, die mit ihrem Tablet auflegt, übernimmt. »Tja, lief doch ganz gut, oder? Leider mit ein paar technischen Pannen … «, sage ich zum Veranstalter. »Nee, Andi«, antwortet er, »es war schlecht. Echt schlecht. Richtig schlecht! Es ist ja okay, wenn mal eine Panne passiert, aber nicht in jedem zweiten Song! Das unterbricht total den Tanz-Flow!«

Das war echt schlecht. Richtig schlecht. Wie ein Mantra spukt es mir im Kopf, als ich zusammenpacke und nach Hause radele. Echt schlecht. Auweia! Dabei habe ich mich noch beklatschen lassen und fühlte mich eigentlich ganz gut. Ich Idiot. Mir hat die Sonne zugesetzt. Ich darf meinen Hut nicht mehr vergessen. Und der Wind! Es ist doch nicht meine Schuld, wenn es windig ist. War denn das ganze vorige Jahr windstill?  Was habe ich denn damals gemacht? Als ich schon fast zu Hause bin, fällt es mir schlagartig ein. Ich habe ganz einfach den De­ckel des Plattenspielers zugemacht.