Zum Tod von Toni Negri

Geschichte eines Kommunisten

Für seine Gegner bleibt er der böse Lehrmeister, der zu Gewalt aufstachelt. Dabei hat der italienische Philosoph und Theoretiker Antonio Negri die Morde der Roten Brigaden abgelehnt. Seine Hoffnungen ruhten auf den sozialen Bewegungen.

»Das beharrliche Klingeln hat mich geweckt. Im Halbschlaf gehe ich zur Tür, als ich sie öffne, wird mir schwindlig: Vor mir steht eine Wand dunkelblau Uniformierter, sie halten Waffen im Arm und tragen blaue Kapuzen mit einem schwarzen Plastikstreifen über den Augen, der sie rätselhaft aussehen lässt, wie Marsmenschen.« Mit dieser Szene beginnt Anna Negris autobiographische Erzählung ihrer Kindheit inmitten der italienischen außerparlamentarischen Linken der sechziger und siebziger Jahre.

Im Frühjahr 1977 hat die damals 12jährige noch wenig Erfahrung mit Hausdurchsuchungen. Zwei Jahre später kommen die »Marsmenschen« in Zivil und nehmen den Vater in Haft. Antonio Negri, Philosophieprofessor und Aktivist der Bewegung Autonomia Operaia (Arbeiterautonomie), wird beschuldigt, als ideologischer Kopf der Brigate Rosse (Rote Brigaden) zum bewaffneten Kampf gegen den Staat aufgerufen zu haben und damit für die Entführungen und Morde der Linksterroristen verantwortlich zu sein.

Wie stark die Ereignisse der späten siebziger Jahre nicht nur die Geschichte der Familie prägten, zeigen die Reaktionen auf den Tod Antonio Negris am 16. Dezember in Paris. Kaum hatte Anna Negri auf Instagram den Tod ihres Vaters bekanntgegeben, flammten Hass und Verachtung seiner politischen Gegner wieder auf.

Negri war überzeugt, dass nach den sozialen Bewegungen von 1968 revolutionäre Veränderungen nicht länger nur von den Fabriken ausgehen konnten, sondern alle widerständigen Potentiale der Gesellschaft mobilisiert werden mussten.

Begonnen hat »das kurze Jahrhundert des Toni Negri« – so der Titel ­eines Interviews in der Tageszeitung Il Manifesto anlässlich seines 90. Geburtstags im August vergangenen Jahres – im Nordosten des Landes. Negri studierte in Padua, saß einige Jahre für die Sozialistische Partei im Stadtrat und erhielt 1967 an der dortigen Universität eine Professur für politische Philosophie. Versuche, den philosophischen Autor »Antonio« vom politischen Autor »Toni« zu trennen, gab er bald auf, zu eng hingen seine wissenschaftlichen Stu­dien und sein politisches Engagement an der Seite der Arbeiterklasse in den Industrieanlagen des Porto Marghera zusammen.

Führender Theoretiker der neomarxistischen Bewegung des Operaismus

In den sechziger Jahren gehörte Negri zu den führenden Theoretikern der neomarxistischen Bewegung des Operaismus, die in kritischer Abgrenzung von der politischen Strategie der traditionellen Partei- und Gewerkschaftslinken eine autonome Politik der Arbeiterklasse anstrebte. Die Frage der Radikalisierung der Arbeiterkämpfe führte schließlich zur Spaltung. Negri war überzeugt, dass nach den sozialen Bewegungen von 1968 revolutionäre Veränderungen nicht länger nur von den Fabriken ausgehen konnten, sondern alle widerständigen Potentiale der Gesellschaft mobilisiert werden mussten.

Als Mitgründer der Gruppe Potere Operaio (Arbeitermacht), aus der sich im Laufe der siebziger Jahre die Au­tonomia Operaia entwickelte, rechtfertigte er Formen »sozialen Widerstands« wie Arbeitsverweigerung, Sabotage und die kollektive Aneignung lebensnotwendiger Güter (autoriduzione). Die mörderische Gewalt der Roten Brigaden lehnte Negri ab. Diese Differenzierung überging die staatliche Repression 1979: Die gesamte außerparlamentarische Bewegung wurde kriminalisiert.

Tausende Militante der Autonomia saßen mehrere Jahre unschuldig in Untersuchungshaft. Negri konnte das Hochsicherheitsgefängnis 1983 verlassen, weil er für den Partito ­Radicale ins Parlament gewählt worden war. Dass er die Gelegenheit zur Flucht nach Frankreich nutzte, galt vielen Linken als Verrat.

Weil Negri ahnte, dass er den diffamierenden Beinamen nicht wieder loswerden würde, deutete er ihn in einer »Lobrede auf den bösen Lehrmeister« zu einer Auszeichnung um.

Erst im Berufungsverfahren von 1987 wurden die Hauptanklagepunkte fallengelassen, übrig blieb eine Verurteilung wegen »moralischer Unterstützung« subversiver Vereinigungen. Für ­seine politischen Gegner bliebt Negri der cattivo maestro, der »böse Lehrmeister«, Verführer und Anstifter zur Gewalt.
Der Vorwurf wurde in den Nachrufen vielfach wiederholt: Kulturminister Gennaro Sangiuliano (Fratelli d’Italia) schrieb, Negri sei »gewiss ein böser Lehrmeister«. Auch die großen Tageszeitungen griffen den Schimpfnamen in ihrer Todesmeldung auf, die regierungstreue rechte Presse fand noch eine Steigerungsform und nannte den Verstorbenen den »Vater aller bösen Lehrmeister« (Il Giornale).

Idee von einem revolutionären Subjekt als unermüdlich konstituierende Kraft

Weil Negri ahnte, dass er den diffamierenden Beinamen nicht wieder loswerden würde, deutete er ihn in einer »Lobrede auf den bösen Lehrmeister« (2003) zu einer Auszeichnung um: Nur der herrschenden Rechtsordnung gelte der »cattivo maestro« als »böser« Unruhestifter, philosophisch betrachtet handle er aus Empörung gegen das Unrecht in der Welt, weshalb zu hoffen sei, dass es zukünftig eine ganze »Multitude« von bösen Lehrmeistern geben werde.

Negri formuliert in der »Lobrede« seine Idee von einem revolutionären Subjekt als unermüdlich konstituierende Kraft mit dem Vokabular, das er in seinen gemeinsam mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt verfassten Weltbestseller »Empire – die neue Weltordnung« (2002, die englischsprachige Originalausgabe ­erschien 2000) und dessen Fortsetzung »Multitude: Krieg und Demokratie im Empire« (2004) entwickelt hatte. Später folgten noch die beiden ebenfalls gemeinsam mit Hardt verfassten Bände »Common Wealth: Das Ende des Eigentums« (2010) und »Assembly« (2018).

Die Analyse der globalen Weltordnung des »Imperiums« war bereits in den letzten Pariser Exiljahren entstanden, als Negri durch seine Lehr­tätigkeit an der Universität Paris VIII die sans papiers und die prekären Wissensarbeiter als neue antagonistische Subjekte entdeckte. Mit der freiwilligen Rückkehr nach Italien im Sommer 1997 verband Negri die Hoffnung auf einen politischen Neuanfang. Doch es gelang nicht, eine Amnestie für die militanten Linken der siebziger Jahre zu erwirken; ­Negri musste sogar den Rest seiner Haftstrafe absitzen, die letzten vier Jahre bis 2003 als Freigänger.

Neue Formen sozialen Widerstands

Seine Erwartung, dass die kapitalistische Neuorganisation auch neue Formen sozialen Widerstands hervorbringen würde, schien sich indes zu erfüllen. Sein Denken inspirierte die Proteste der Tute bianche (weiße Overalls) gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, aus denen schließlich die globalisierungskritische Bewegung der Disobbedienti (Ungehorsame) hervorging. In Rom hielt er als Freigänger Seminare in Privaträumen, die nach seiner Haftzeit in einem von Studierenden besetzten, selbstverwalteten Kulturzentrum, dem ESC-Atelier, ihre öffentliche Fortsetzung fanden. Außerdem gehörte Negri 2004 zu den Mitgründern des Netzwerks Uni Nomade, später Euro ­Nomade, das unzählige Seminare und Debatten veranstaltete. Für diese nach der Jahrtausendwende entstandene postoperaistische Multitude war Negri – wie Il Manifesto zu seinem Tod titelte – ein attivo maestro, ein handelnder, schöpferischer Lehrmeister, der nicht nur darauf drängte, sondern auch dazu beitrug, Philo­sophie und Politik unter die Leute zu bringen.

Eine (selbst)kritische Analyse der eigenen Niederlagen war Negris Sache nicht. Bis zuletzt widmete er sich lieber seiner Idee von Kommunismus, der Erfindung »fröhlicher kollektiver Leidenschaften«.

In der deutschen Rezeption stand sowohl in den siebziger als auch in den nuller Jahren eher der politische Autor im Vordergrund. Sein 1981 erschienenes philosophisches Hauptwerk »L’anomalia selvaggia« wurde zwar ins Deutsche übersetzt (»Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft«), ist aber seit langem vergriffen.

In der polarisierten italienischen Rezeption könnte die neu aufgelegte Autobiographie von Anna Negri eine Gelegenheit bieten, persönliche und politische Brüche, Grenzen und Widersprüche im Denken und Handeln der Protagonisten der Autonomia zu diskutieren. Denn eine (selbst)kritische Analyse der eigenen Niederlagen war Negris Sache nicht. Bis zuletzt widmete er sich lieber seiner Idee von Kommunismus, der Erfindung »fröhlicher kollektiver Leidenschaften«. Den letzten Band seiner dreibändigen Autobiographie »Storia di un comunista« (Geschichte eines Kommunisten, 2015–2020) schloss er mit dem Versprechen, dass der Tod für einen cattivo maestro, der die Kunst der Subversion beherrsche, nicht existiere: »Die Ewigkeit umarmt uns.«

Damit seine »Philosophie der konstituierenden Macht« weiterentwickelt werden kann, hat sein italienischer Verlag Manifestolibri ihm zu seinem 90. Geburtstag eine eigene Reihe gewidmet. Die Publikation des ersten Bands der »Biblioteca negriana« hat er noch selbst erlebt. Die erste öffentliche Präsentation fand nur wenige Tage nach seinem Tod statt, auf einer Veranstaltung unabhängiger Buch- und Weinproduzenten just im Kulturzentrum ESC in Rom, wo Toni Negris offenes, ansteckendes Lachen vielleicht nicht ewig, aber noch lange nachhallen wird.