Epochenporträt von Jens Balzer, das Ende von »Manifest« und ein Hoch auf die verstorbene DJ Patex

Wir waren nicht alle Spice Girls, Jens!

Eine Erinnerung an Portishead und DJ Patex. Ein paar neue Scheiben gibt es auch.
Die Summens Von

»No Limit!« So heißt das neueste Pop-Jahrzehnt-Sachbuch von Berlins prominentestem Popkritiker, Jens Balzer. Nach »Das entfesselte Jahrzehnt« (Siebziger) und »High Energy« (Achtziger) nun also endlich ein Buch über die Neunziger. Man mag von Dekaden als Orientierungshilfe halten, was man will, aber Balzers kulturpolitischer Spannungsbogen von der Maueröffnung bis hin zu 9/11 liest sich schlüssig. Es geht um Techno und Eurodance als Soundtrack zur kompletten Individualverblödung, um das Erstarken einer neuen Rechten und das Schröder-Blair-Papier als Schlachtplan zur endgültigen Neoliberalisierung der Sozialdemokratie.

Einziger Kritikpunkt: Balzers entschiedener Fokus auf die Mainstream-Phänomene jener Zeit. So sind die Spice Girls sicher nicht die relevanteste UK-Band der Neunziger, sondern eher Portishead. Nicht alle waren komplett verstrahlt! Es gab durchaus Zweif­ler:innen. Und eine hörbar gemachte Melancholie in der Maschinerie.

Die entdecken wir auch auf Paul St. Hilaires Album »Tikiman Vol 1«. Der in Berlin gestrandete Sänger und Produzent aus der Dominikanischen Republik präsentiert unfassbare Dub-Räume zum Niederknien.

Wir trinken einen Cuba Libre auf die vorige Woche leider verstorbene, singende Kulturwissenschaftlerin DJ Patex. »An allem ist zu zweifeln« hieß ihr letztes Album unter dem Namen School of Zuversicht.

Ein wenig melancholisch stimmt Komaglotzer:innen dieser Tage auch das Ende der überaus erfolgreichen Netflix-Serie »Manifest«. Die Mystery-Soap um die Passagiere eines Flugzeugs, das in merkwürdige Turbulenzen gerät und erst fünf Jahre später wieder landet, fand kürzlich ihre recht zufriedenstellende Auflösung. Und auch wenn die Dialoge teilweise unterirdisch waren, die Schauspielkunst einzelner durchaus ausbaufähig und religiöse Motive bis an die Grenze der Zuschauerbelastbarkeit bemüht wurden, hielt die Binger:innen die Neugier darüber, was mit Flug 828 geschah und was das Schicksal mit den Charakteren vorhat, erstaunlicherweise doch bei der Stange. Sogar Stephen King, der sich als großer Fan der Serie outete.

Nach dem Serienstress haben wir uns etwas Sommerloch mit Funklöchern verdient. Wir pfeifen dazu das neue Lied der Düsseldorf Düsterboys, die von nicht existierenden Blumen und sonstigen Halluzinationen auf Balkonien berichten.

Dazu trinken wir einen Cuba Libre auf die vorige Woche leider verstorbene, singende Kulturwissenschaftlerin DJ Patex. »An allem ist zu zweifeln« hieß ihr letztes Album unter dem Namen School of Zuversicht, das sie trotz fortschreitender ALS-Krankheit unter Coronabedingungen noch mit ihrer Band auf die Bühnen brachte. Eine Woche vor ihrem Tod wurde ihr noch der »Unbestechlichkeitspreis« des Golden Pudel Clubs verliehen … Auf Dich, liebe Patex!