Vor 90 Jahren zerstörten die Nazis das Institut für Sexualwissenschaft

Ein zerstörtes Kind der Revolution

Vor 90 Jahren verwüsteten die Nationalsozialisten das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Sein Gründer Magnus Hirschfeld, der sich vor allem der Entkriminalisierung der Homosexualität verschrieben hatte, war schon lange davor Angriffen ausgesetzt.

In einem Pariser Kino musste der Sexologe Magnus Hirschfeld im Mai 1933 die Zerstörung seines Lebenswerkes in einer Wochenschau mitansehen. Die mühsam über viele Jahre zusammengetragene und damals weltweit umfangreichste sexualwissenschaftliche Bibliothek und Sammlung seines Instituts wurde binnen weniger Stunden von nationalsozialistischen Studenten geplündert und später vernichtet.

Wenige Jahre zuvor hatte Hirschfeld das zehnjährige Bestehen noch kämpferisch kommentiert: »Solan­ge Sexualgesetze nicht zum Wohle des Volkes, sondern zum Wohl des Erpressers in Aussicht stehen, wollen wir nicht feiern, sondern arbeiten«. Diese Arbeit war nun unumstößlich an ihr Ende gekommen. Schwere Drohungen gegen seine Person hatten Hirschfeld – den Sozialdemokraten, Juden und Homosexuellen – dazu veranlasst, von einer 1931 begonnenen Weltreise nicht mehr nach Deutsch­land zurückzukehren. 14 Jahre währte die kurze Geschichte seines Lebenstraums, der im Johlen der von der Lust an der Grausamkeit erfüllten Studenten unterging.

Das Institut
Gemeinsam mit dem Nervenarzt Arthur Kronfeld und dem Dermatologen Friedrich Wertheim gründete Hirschfeld im Juli 1919 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin-Tiergarten – eine weltweit einzigartige Einrichtung auf dem Gebiet der umfassenden Aufklärung über die menschliche Sexualität. Das Institut war kaum mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen zu vergleichen. Nicht das bloße Anhäufen von Daten und die theoretische Bearbeitung des Forschungsgegenstands stand im Mittelpunkt der Institutsarbeit, sondern die sozialreformerische Praxis.

Hirschfeld bezeichnete sein Institut als ein »Kind der Revolution« von 1918/19. Die hier praktizierte Wissenschaft sollte den liberalen politischen Zielen dienen, allen voran der Entkriminalisierung der Homosexualität (»Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit« lautete Hirschfelds Motto). Der Aufbruch war getragen vom Fortschrittsglauben und der Hoffnung, das mit der neuen deutschen Republik endlich ein liberaleres Strafrecht Wirklichkeit werden und sich eine neue Auffassung von Sexualität durchsetzen könne.

Die vielen Schmutzmetaphern, mit denen die Arbeit des Instituts geschmäht wurde, zeigen, wie das nationalsozialistische Ideal einer hygienischen Sexualität beschaffen war.

Zunächst sollte sich das Institut drei Aufgabenbereichen widmen: Forschung zu sexualwissenschaftlichen Themen, Ausbildung und Aufklärung von Medizinern und Laien auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft sowie Behandlung von Geschlechtskrankheiten und sexuellen Leiden. Die theoretische Grundlage bildete Hirschfelds Zwischenstufentheorie, laut der jedes Individuum sowohl über weibliche als auch männliche Eigenschaften verfüge und sich zwischen den Idealtypen »Mann« und »Frau« bewege. Das konkrete Individuum ergebe sich aus den unzähligen Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Eigenschaften.

Das Rätsel der Sexualität wiederum lasse sich in den menschlichen Drüsen ergründen. Die dort produzierten Hormone bestimmten, ob ein Mensch homosexuell werde. So begründete Hirschfeld zugleich die Natürlichkeit der Homosexualität. Mit dem Argument, Homosexualität sei naturgegeben, sollte nicht zuletzt den Befürwortern des antischwulen Paragraphen 175 begegnet werden. Diese führten mann-männliche Sexualität – sofern sie sie nicht gleich als krankhafte Degeneration betrachteten – auf einen Moment der Schwäche, eine emotionale Ausnahmesituation und einen Akt der Verführung durch zwielichtige Gestalten der modernen Großstadt zurück – Kuppelei und Homosexualität wurden oft in einem Atemzug genannt.

Ab Mitte der zwanziger Jahre verlagerte sich der Schwerpunkt des In­stituts auf die beiden Bereiche Aufklärung und Behandlung sexueller Leiden. Der Jahresbericht 1924 listete insgesamt 18 verschiedene Abteilungen des Instituts auf, unter ihnen Abteilungen für körperliche sowie seelische Sexualleiden, eine sexualärztliche Poliklinik, aber auch eine Ehe- und Berufsberatungsstelle, eine »Eugenische Abteilung für Mutter und Kind« oder die »Hilfsstelle für Stammbaum- und Familienforschung«. Ein weiteres Arbeitsfeld bildeten die forensischen Gutachten. In den Beratungsstellen sollte nach bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten anhand von Gesundheitszeugnissen und familiären Vorerkrankungen zu Ehe und Nachwuchsplanung beraten werden.

Wie bedeutend Eugenik für die Institutsarbeit war und ob es eine inhaltliche Nähe zur späteren Rassenhygiene der Nationalsozialisten gab, ist in der Forschung umstritten. Rainer Herrn unterstreicht in seiner umfangreichen Studie zur Geschichte des Instituts, dass Hirschfelds eugenische Konzepte konträr zu den Rassevorstellungen der Nationalsozialisten standen. Gleichwohl enthielten seine Abhandlungen aus heutiger Sicht verstörende Elemente, wie die Ausmerzung von Volkskrankheiten oder bloß gesellschaftlichen Erscheinungen durch die bevölkerungspolitisch motivierte Zuchtwahl des Ehepartners.

Die einzelnen Institutsabteilungen bestanden häufig aus nur wenigen Mitarbeitern und verschwanden wieder, wenn der jeweilige Leiter aus dem Institut ausschied. In der wissenschaftlichen Zusammensetzung gab es nur wenig Kontinuität. Dennoch war das Institut über die gesamte Zeit die wichtigste sexualmedizinische Versorgungseinrichtung für die breite Bevölkerung in Berlin und Umland; seine Schriften wurden in ganz Deutschland gelesen. Es gab regelmäßig Vortragsreihen zu den Themen Verhütung, Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten. Besucher konnten anonym Fragen einreichen, die dann regelmäßig in öffentlichen Runden von Institutsmitarbeitern beantwortet wurden. Mittellose Patienten konnten sich in gesonderten Sprechstunden kostenlos behandeln lassen. Auch wenn im Institut selbst wohl keine Abtreibungen vorgenommen wurden, fanden sich unter den dort praktizierenden Ärzten Anhänger einer zumindest teilweisen Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Beratungen zu diesem Tabuthema fanden nachweislich im Institut statt.

Nachdem Hirschfeld ein benachbartes Wohnhaus gekauft und mit dem Hauptgebäude verbunden hatte, gehörten zeitweise der KPD-Medienunternehmer Willi Münzenberg, Walter Benjamin, Ernst Bloch und der britische Autor Christopher Isherwood zu den Mietern des Instituts. Letzterer beschrieb in seinen Erzählungen mehrfach das Institut und den Einfluss, den dieses auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Homosexualität hatte. Das Institut bildete einen Treffpunkt linker Intellektueller und zeigte, wie ein liberalerer Umgang mit Sexualität aussehen könnte. Entgegen dem weitverbreiteten Bild eines hyperliberalen Berlins der zwanziger Jahre blieb das Instituts umstritten. Eine wissenschaftliche Anerkennung der Arbeit blieb Hirschfeld und seinen Mitstreitern verwehrt.

Die illiberalen Zwanziger
Zudem war das Institut zeit seines Bestehens harten Anfeindungen ausgesetzt. Bereits kurz nach der Eröffnung erschien in der rechten und antisemitischen Staatsbürger-Zeitung ein verleumderischer Artikel über das Institut. Neben dem Vorwurf der Pädophilie und der Zerstörung der allgemeinen Moral und Sittlichkeit wurde Hirschfeld der feindlichen Agententätigkeit und des Bolschewismus bezichtigt. Die verschiedenen Vorwürfe und Mutmaßungen griffen ineinander und sollten den Eindruck erwecken, hier wäre ein Agent der Feinde all dessen am Werk, was als deutsches Wesen angesehen wurde. Homosexualität galt als Bedrohung der wahren, nationalen Männlichkeit, die das Fortbestehen des Volksganzen gefährde.

Der Vorwurf der Illoyalität gegenüber dem deutschen Volk gehörte zum festen Repertoire des modernen Antisemiten. Insinuiert wurde nicht nur Geheimnisverrat, sondern mann-männlicher Sex mit ausländischen Militärs. Geschickt verstand es der Autor des Artikels, mit Gerüchten und Andeutungen Phantasien über das ungehörige Treiben hinter den Türen des Instituts anzuregen. Der wissenschaftliche Anspruch maskiere lediglich die niederen Absichten. Es bedürfe eines raschen Einschreitens der Autoritäten gegen die immer schamloseren Homosexuellen, um deren weiteres Vordringen in die Öffentlichkeit abzuwehren.

Die Berliner Staatsanwaltschaft ordnete schließlich eine Inspektion des Instituts an, um den mittlerweile zahlreichen Vorwürfen gegen Hirschfeld nachzugehen. Der Bericht des beauftragten Regierungs-Medizinalrats Schlegtendal vom Mai 1920 enthält indes keine skandalträchtigen Entdeckungen. Umso mehr konzentriert sich der Verfasser auf ihm zugetragene Gerüchte. Eine verschlossene Tür, das private Schlafzimmer Hirschfelds und Fenstervorhänge erzeugten beim aufgekratzten Medizinalrat die Vorstellung, es handle sich um einen schwulen Lusttempel. Trotz der Voreingenommenheit des Berichts brachten die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft keine verwertbaren Ergebnisse. Die Angriffe und Verleumdungen hörten indes nicht auf, auf Hirschfeld selbst wurde im selben Jahr in München nach einem Vortrag ein Attentat verübt, das er schwerverletzt überlebte.

13 Jahre später, am 6. Mai 1933, bildete die Plünderung des Instituts den Ausgangspunkt der Propagandaaktion »Wider den undeutschen Geist« in Berlin; in deren Zuge suchte der Nazi-Mob in den folgenden Tage noch weitere Bibliotheken heim. Das Gros der Institutsbibliothek wurde vernichtet, das Gebäude verwüstet. Bücher und Schautafeln wurden im Studentenhaus als abschreckendes Beispiel zur Schau gestellt, ehe sie am Abend des 10. Mai auf den Scheiterhaufen auf dem Berliner Opernplatz geworfen wurden. Der Berliner Lokal-Anzeiger vom 7. Mai berichtete begeistert von der studentischen Aktion gegen »moralische und physische Vergiftung«, die einen »Wust von Schmutz« aus dem Institut gekehrt habe.

Nationalsozialistische Sexualmoral
Die vielen Schmutzmetaphern, mit denen die Arbeit des Instituts geschmäht wurde, zeigen, wie das nationalsozialistische Ideal einer hygienischen Sexualität beschaffen war; diese durfte allein der Fortpflanzung der Volksgenossen dienen. Hier kündigt sich bereits die bald offiziell vorherrschende Sexualmoral des Nationalsozialismus an.

Während der preußische Medizinalrat noch verklausuliert über die Gerüchte geschrieben hatte, die über das Institut kursierten, erging sich die Berichterstattung über die Aktion des Mai 1933 in einer minutiösen Auflistung der »Abscheulichkeiten«, die man nun, in der neuen Zeit, auszurotten trachte. Die nationalsozialistische Sexualpolitik war zuvorderst eine Integration der Sexualität in die Politik, wie sie etwa an den Rassegesetzen, dem Mutterkreuz oder dem Verein Lebensborn, der zur Aufzucht besonders »arischer« Kinder beitragen sollte, am deutlichsten wurde; die Debatte in der Weimarer Republik über eine staatliche Institutionalisierung der Eugenik entschieden die Nationalsozialisten im Handstreich.

Sexualität wurde nicht mehr zumindest in einem gewissen engen Rahmen als Privatsache behandelt, sondern vollständig und ganz ungeniert in den Dienst der Gemeinschaft genommen. Die auf die Homosexuellen projizierte Lust sollte auch deshalb nicht mehr sein, weil man sich der eignen soeben für die Volksgemeinschaft entledigt hatte. Dennoch sei die Aktion gegen das Institut nicht als Rache oder in unkontrollierter Rage ausgeführt worden, sondern Ergebnis »bedachtsamen Wägens« und sorgfältiger Prüfung, hieß es im Lokal-Anzeiger. Die Politik des »gesunden Volksempfindens«, die tatsächlich nichts anderes als den Gewaltexzess gegen die von der Gemeinschaft Ausgestoßenen bedeutete, erscheint so als besonnene, emotionslose Verwaltungsmaßnahme. Diese Bürokratisierung des Wütens und Mordens durch Erlasse, Anordnungen und Durchführungsvorschriften zieht sich von hier aus durch die gesamte Zeit der NS-Herrschaft.

Im Mai 1933 beendete der studentische Mob, was 14 Jahre zuvor so hoffnungsvoll begonnen und Tausenden Menschen Schutz, Aufklärung, Rat und Linderung geboten hatte. Versuche, im Exil und nach dem Krieg an die Arbeit des Instituts wieder anzuknüpfen, scheiterten. Und vor dem Hintergrund einer weitestgehenden Gleichberechtigung der Homosexuellen im heutigen Deutschland gerät die Arbeit des Instituts für Sexualwissenschaft immer mehr in Vergessenheit.