Als Engländer den Fußball nach Wien brachten
Rad- und Pferderennen: Das waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beliebtesten Publikumssportarten in Österreich-Ungarn. Doch ausgehend von den britischen Inseln verbreitete sich zum Ende des Jahrhunderts ein neuer Mannschaftssport, der bald zum populärsten der Welt werden würde: Fußball. Und wie in vielen anderen Städten waren es auch in Wien Engländer, die als Gastarbeiter das Fußballvirus verbreiteten.
Zu den bedeutendsten Gartenanlagen in Wien gehörten damals der Prater im Zweiten Bezirk sowie die Privatgärten des Barons Nathaniel Rothschild im 19. Bezirk. Wer das nötige Kleingeld hatte und wollte, dass seine Gärten mit den weltberühmten britischen mithalten konnten, engagierte englische Gartenarchitekten und Gärtner. Das taten auch Nathaniel Rothschild und die Verwalter der Pratergärten.
In Rothschilds weitläufigen Grünanlagen machten die Gärtner William Beale und James Black ihre österreichischen Kollegen, die Brüder Max und Franz Joli, mit den Freuden des Kickens bekannt. Schon bald spielten Rothschilds Gärtner in kleinen Teams gegeneinander, und zwar jeden Abend bis zum Einbruch der Nacht. Max Joli, der später als Architekt Berühmtheit erlangen sollte, erinnerte sich in einer 1919 erschienenen Festschrift des von den ersten Enthusiasten gegründeten First Vienna FC: »Bereits am dritten Tag war die ganze Rothschild’sche Gärtnerei besessen und lief tagtäglich wie eine Hundemeute hinter dem Ball her.«
Der Hausherr, ein Spross der legendären Bankiersfamilie, sah mit Missvergnügen, wie sein herrlicher englischer Rasen immer öfter von beherzten Tritten verunstaltet wurde. Da er aber seinen Angestellten die Freizeitfreude nicht vermiesen wollte, riet er ihnen, sich eine gesonderte Spielstätte zu suchen. Für die Pacht würde er aus seiner Privatkasse aufkommen.
»Bereits am dritten Tag war die ganze Rothschild’sche Gärtnerei besessen und lief tagtäglich wie eine Hundemeute hinter dem Ball her.« Max Joli, Vereinsgründer des First Vienna FC
In den Pratergärten wollten derweil die dort arbeitenden Engländer ihren Wiener Kollegen die Feinheiten des Cricket beibringen, aber diese wurden mit dem komplexen Schlagballspiel nicht so recht warm. Fußball dagegen, der zweitliebste Sport der englischen Gärtner, stieß sofort auf reges Interesse. Zur selben Zeit wie die Kollegen der Rothschild-Gärten bildeten die Prater-Leute erste kleine Teams und konnten gar nicht genug bekommen vom Balltreten. Bald sahen auch junge Männer aus der Nachbarschaft, was für ein Vergnügen dieser neuartige Sport denen bereitete, die ihn betrieben, und die Amateurspiele lockten mehr und mehr Zuschauer an.
Die Rothschild-Gärtner suchten derweil eine geeignete Spielwiese. Die erste war ein im Sommer trocken liegender künstlicher Teich, wo man im Winter Eis herstellte. Die Stätte erwies sich jedoch wegen der kleinen Dämme, über die die Spieler immer springen mussten, als nicht gerade ideal. Schließlich fanden Beale und die Joli-Brüder Anfang 1894 einen Acker, der praktischerweise direkt neben den Rothschild-Gärten lag, und überredeten den Besitzer dazu, ihnen den Flecken Land zu verpachten.
Die folgenden Wochen verbrachte man nicht mit Fußballspielen, sondern damit, das Areal in eine Spielwiese umzuwandeln. Eine schweißtreibende Arbeit, die aber mit der Aussicht auf einen eigenen Fußballplatz und die bevorstehende Vereinsgründung versüßt wurde. Dieser Platz ging als »Kuglerwiese« in die Fußballgeschichte Österreichs ein.
Während das Rothschild-Team sich First Vienna Football-Club nannte und die Vereinsstatuten ausarbeitete, schlief die Konkurrenz im Prater nicht. Dort wollte man als First Vienna Cricket and Football-Club Österreichs erster eingetragener Fußballverein werden. Der Zufall wollte es, dass beide Teams ihren Antrag auf Vereinsgründung am selben Tag beim zuständigen Wiener Amt für Vereinsfragen einbrachten. Dort zog ein Beamter wohl ohne Absicht zuerst den Antrag der Vienna aus dem Stapel und drückte den Stempel mit dem Königlich-Kaiserlichen Siegel auf das Papier.
Der First Vienna Football Club hatte damit das Rennen um Haaresbreite gewonnen – und verlangte sofort, dass der First Vienna Cricket and Football-Club das »First« aus dem Namen streiche. Dem kamen die Prater-Kicker zähneknirschend nach, aber nicht ohne Gerüchte zu streuen, wonach bei der Entscheidung des Amtes Bestechung im Spiel gewesen sei. Damit begann die erste große Clubrivalität in Österreich. Die Anhänger der beiden Vereine sollten in den folgenden Jahrzehnten ihre gegenseitige Abneigung oftmals nicht nur verbal zum Ausdruck bringen.
Der First Vienna Football-Club feierte seine Gründung und seinen knappen Siegesritt auf dem Amtsschimmel im Nobellokal »Zur schönen Aussicht«. Anwesend waren die Brüder Franz und Max Joli, die Engländer William Beale und James Black, der erste Vereinsobmann Geo Fuchs sowie, als Ehrengäste und Mäzene, Baron Nathaniel Rothschild und ein Direktor des Bankhauses, das den berühmten Namen trug.
Bei dieser Gelegenheit präsentierte William Beale das bis heute verwendete Vereinslogo: Eine von seiner Heimat auf der Isle of Man inspirierte keltische Triskele, deren drei Spiralarme durch drei Fußballerbeine ersetzt wurden und in deren Zentrum sich ein Fußball befindet. Als Vereinsfarben nahm man die Farben des Wappens der Familie Rothschild, also Blau und Gelb. Die ersten Dresses erinnerten mit ihren vertikal angeordneten Farbblöcken noch an das Outfit von Jockeys.
Nachdem der Verein gegründet und die Spielstätte eröffnet war, stellten sich die Gelb-Blauen ihren Erzrivalen aus dem Prater – und verloren 0:4. Das lag unter anderem daran, dass die Spieler vom Vienna Cricket and Football-Club bereits mit einer Art Stollen unter ihren Schuhen antraten, während die Vienna-Kicker mit glatten Sohlen spielten. Während in den USA Baseballschuhe mit Eisenstollen bereits 1860 gebräuchlich waren, hatte es einige Jahrzehnte gedauert, bis diese Mode auch in Europa Einzug hielt: Die ersten Lederschuhe mit so genannten Spikes waren in den 1890er Jahren in Großbritannien als Laufschuhe entwickelt worden, von einer Firma, die heute unter dem Namen Reebok weltbekannt ist.
Das große Wiener Match fand am 15. November 1894 statt, und weil beide Vereine amtlich gemeldet waren und neben Engländern auch Österreicher spielten, galt es als das erste österreichische Vereinsspiel. Fußball wurde binnen weniger Jahre zum beliebtesten Sport in Österreich-Ungarn – ebenso wie in ganz Europa und Lateinamerika. Wegen des immer größer werdenden Publikumszuspruchs baute der First Vienna FC im Jahr 1904 auf der Hohen Warte in Wien das damals modernste Fußballstadion der Welt – eine Spielstätte, die bis heute in Betrieb ist, auch wenn sie längst schon nicht mehr für bedeutende Spiele genutzt wird.
Der First Vienna FC wurde in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Fußballvereine Österreichs und Mitteleuropas. Sogar als die Nazis die Rothschildgärten »arisierten«, die Villa des 1905 verstorbenen Nathaniel Rothschild verwüsteten, die dortige Kunstsammlung plünderten und mehrere jüdische Vereinsmitglieder ermordeten, blieb die Vienna ein erfolgreicher Club. Der Abstieg begann in den frühen neunziger Jahren, als der Verein zunächst in die zweite und schließlich in die dritte Spielklasse abstieg. Nach einem Tiefpunkt in der Saison 2017/18, als der First Vienna FC in die fünfte Liga abgesackt war, hat sich der Verein inzwischen wieder in die 2. Liga Österreichs hochgekämpft.
Und die anderen? Der rivalisierende Gärtner-Verein der frühen Jahre hat lange schon keine Fußballabteilung mehr; allerdings entstand aus einer Abspaltung des Vienna Cricket and Football-Club 1911 der heutige FK Austria Wien, seit damals ohne Unterbrechung in der höchsten Spielklasse des Landes vertreten.