Die Zukunftsliteratur von Ursula K. Le Guin erscheint in deutscher Neuübersetzung

Jenseits von Gender

Der bahnbrechende Roman »Die linke Hand der Dunkelheit« von Ursula K. Le Guin untersucht den Zusammenhang von Geschlecht und Macht. Das feministische Science-Fiction-Meisterwerk erscheint jetzt in neuer Übersetzung.

Die US-amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018) hatte schon unzählige Literaturpreise gewonnen, als sie 2014 den renommierten Preis der National Book Foundation für ihr Lebenswerk erhielt. Diese Auszeichnung war auch deshalb bedeutsam, weil die ungemein produktive Autorin bis dahin von der Literaturkritik kaum wahrgenommen und sie zumeist mit Genrepreisen bedacht worden war. Der Preis für ihr Lebenswerk bedeutete also auch die späte Anerkennung einer Autorin, deren Einfluss nicht nur auf die phantastische Literatur kaum zu ermessen war. Dass Le Guin von der Genreautorin zur Klassikerin geadelt wurde, kann als Grund dafür gelten, dass ihr umfangreiches Werk nun nach und nach bei Fischer Tor erscheint – in der Neuübersetzung von Karen Nölle, die die nüchterne Erzählstimme der Autorin ernst nimmt und darauf verzichtet, sie genrekonform auszuschmücken oder zu erklären.

Die jüngste Neuübersetzung aus dieser Reihe ist der 1969 erschienene Roman »The Left Hand of Darkness«, der in Deutschland 1974 zunächst unter dem Titel »Winterplanet« veröffentlicht worden war. Jetzt erscheint das Science-Fiction-Meisterwerk unter dem Titel »Die linke Hand der Dunkelheit«.

Freier Austausch von Wissen und Waren
Innerhalb von Le Guins Werk gehört der Roman dem Hainish-Zyklus an, der noch weitere sieben Romane und zahlreiche Kurzgeschichten umfasst. In dem hier entworfenen Universum wurden die Planeten – auch die Erde – einst von den Humanoiden des Planeten Hain, einer Millionen Jahre alten und mittlerweile sehr weisen und hochentwickelten Zivi­lisation, kolonialisiert und dann sich selbst überlassen. In der Folge entstanden auf diesen Planeten menschliche Zivilisationen. Später nahmen die Hainish wieder Kontakt zu den ehemaligen Kolonien auf und gründeten eine Art interstellarer Uno, das Ekumen. Der Zusammenschluss soll den freien Austausch von Wissen und Waren gewährleisten, aber auch bestimmte universelle Moralprinzipien etablieren und durchsetzen. Zahlreiche Forscher:innen und Diplo­mat:in­nen reisen aus diesem Grund zwischen den Welten umher.

Auch wenn »The Left Hand of Darkness« als feministischer Roman rezipiert wurde, warfen Kritikerinnen Le Guin vor, nicht weit genug gegangen zu sein.

Le Guin selbst lehnte es ab, ihre Hainish-Werke als Zyklus zu ver­stehen, weil die einzelnen Texte nur durch ihr – überwiegend stringentes – gemeinsames Universum miteinander verbunden sind und ansonsten kaum Bezug aufeinander nehmen. Ihre jeweilige Handlung wird aber oft motiviert durch das Moment des Aufeinandertreffens der unterschiedlichen Zivilisationen.

In diesen immer neuen Szenarien entwirft Le Guin nicht nur verschiedene spekulative Varianten mensch­lichen Lebens und Zusammenlebens, sondern sie verhandelt auch die politischen und philosophischen Themen ihrer eigenen Welt und Zeit: In »The Dispossessed« von 1974 (bekannt vor allem unter dem Titel »Planet der Habenichtse«, 1976; in der Neuübersetzung heißt der Roman »Freie Geister«, 2017) erkundet ein idealistischer Anarchist und Wissenschaftler in einer seit Jahrhunderten bestehenden anarchistischen Mondkolonie (die stark an die frühe Kibbuz-Bewegung erinnert) seine Zweifel an der Möglichkeit echter Freiheit, selbst in einer idealen Gesellschaft. In dem 1972 erschienenen Roman »The Word for World Is Forest« (»Das Wort für Welt ist Wald«, 2022) setzt sich die Bevölkerung eines Planeten gegen eine brutale, ausbeuterische und militärisch überlegene Kolonialmacht zur Wehr, die die Holzvorräte des Planeten plündern will, weil auf ihrem eigenen Planeten kein Baum mehr wächst.

Geschlechterrolle nicht festgelegt
Als Ehefrau und dreifache Mutter, so Le Guin, habe sie sich zur Zeit der Niederschrift von »The Left Hand of Darkness« in die traditionelle Frauenrolle zurückgedrängt gefühlt. Sie habe sich gefragt, wie eine Welt aussehen könnte, in der das Leben eines Menschen nicht durch sein Geschlecht determiniert sei. Im Aufsatz »Is Gender Necessary?« schrieb sie dazu 1976: »Ich eliminierte das Geschlecht, um herauszufinden, was übrig bleiben würde. Was übrig bliebe, wäre – vermutlich – menschlich.«

Die Bewohner:innen des Winterplaneten Gethen sind die überwiegende Zeit ihres Lebens geschlechtslos. Nur an wenigen Tagen im Monat kommen sie in die »Kemmer«, ihre sexuell aktive Phase, in der sie entweder weibliche oder männliche Geschlechtsmerkmale ausbilden und sich mit einer Partnerin oder einem Partner des jeweils anderen Geschlechts vereinen. Falls in dieser Phase ein Kind gezeugt wird, trägt die weiblich gewordene Person es aus und kehrt anschließend wieder in den geschlechtslosen Zustand zurück. Die Geschlechterrolle, die eine Person in der Kemmer annimmt, ist nicht festgelegt, so dass eine Person in ­ihrem Leben Vater und Mutter einer Reihe von Kindern werden kann.

All dies erfährt man aus den Aufzeichnungen des Terraner Genly Ai. Genly ist ein Gesandter des Ekumen auf Gethen, der erkunden soll, ob Gethen in den Planetenbund aufgenommen werden kann und will. In 13 000 Jahren gethenischer Geschichte gab es den Aufzeichnungen zufolge keine Kriege, keine Sklaverei, keine Ausbeutung von Mensch und Natur, keine schnelle technische Entwicklung. Das gegenwärtige Jahr ist immer das Jahr 1, von dort aus wird vor- und zurückgezählt. Keineswegs wird dabei aber eine romantische, rückständige, intakte Gesellschaft konstruiert. Ein Paradies ist Gethen schon allein deshalb nicht, weil es dort immer bitterkalt ist – was den Gethener:innen allerdings weniger auszumachen scheint als Genly, der ständig friert. Bald gerät der Gesandte zwischen die Fronten eines politischen Konflikts, der ihn schließlich zwingt, gemeinsam mit dem ihm zutiefst unsympathischen Gethener Estraven eine strapaziöse und gefährliche Flucht durch den ewigen Winter des Planeten anzutreten.

Genly mit seiner permanenten Paarungsfähigkeit gilt auf Gethen als Perverser; er hingegen ist seinerseits nicht in der Lage, die Geschlechtslosigkeit der Gethener:innen zu begreifen. So verwendet er in seinen Aufzeichnungen die binären Pronomina seiner Sprache und seines Denkens und liest beinahe alle Menschen, die ihm begegnen, grundsätzlich als männlich – es sei denn, sie zeigten Eigenschaften, die ihm weiblich erscheinen, wie etwa Redseligkeit oder Verletzlichkeit. Dies veranlasst Genly zu gedanklichem genderqueering wie »Meine Wirtin, ein redseliger Mann … « oder »Der König war schwanger«.

Sie sei selbst dem patriarchalen Denken zu stark verhaftet gewesen, um ihre radikale Idee wirklich auszuführen, und dass sie 20 Jahre später einiges anders machen würde, räumte Le Guin ein.

Im Laufe ihrer gemeinsamen Flucht, die Genly und Estraven zu Kooperation und Bindung zwingt, lernen die beiden einander allmählich besser kennen und verstehen. Da beide nun ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Normalität enthoben sind, relativiert sich die Fremdartigkeit des jeweils anderen: »Im Grunde ist er kein größeres sexuelles Unikum als ich: Hier oben auf dem Eis sind wir beide einzigartig, isoliert; ich bin von meinesgleichen, von meiner Gesellschaft und den Regeln genauso abgeschnitten wie er von seiner und den seinen. (…) Und wir sind endlich gleich: gleich, fremd, allein.«

Geschlechtslos, aber ausnahmslos heterosexuell
Auch wenn »The Left Hand of Darkness« als feministischer Roman rezipiert wurde, warfen Kritikerinnen Le Guin vor, nicht weit genug gegangen zu sein. Indem die geschlechtslosen Gethener:innen aus der Perspektive eines sexistischen Mannes geschildert würden, reproduziere sie das patriarchale Muster. Auch der Umstand, dass die Gethener:innen zwar geschlechtslos, aber ausnahmslos heterosexuell sind, mutet absurd an. In einer Überarbeitung von »Is Gender Necessary?« setzte sich Le Guin 1988 mit dieser Kritik auseinander.

Dabei räumt sie ein, dass sie selbst dem patriarchalen Denken zu stark verhaftet gewesen sei, um ihre radikale Idee wirklich auszuführen, und dass sie 20 Jahre später einiges anders machen würde. So erfand sie etwa für eine spätere Drehbuchbearbeitung des Romans neue Personal­pronomina für die Gethener:innen. Dabei kann Genlys Perspektive bis heute auch als Studie darüber gelesen werden, wie sehr das menschliche – oder männliche – Denken von der Geschlechterbinarität und dem Patriarchat geprägt ist: Für einen feministischen Roman ist das eine geradezu zeitlose Qualität.
 

Buchcover

Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit. Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Nölle. Fischer Tor, Frankfurt am Main 2023, 352 Seiten, 18 Euro