Vor 100 Jahren erschien »Geschichte und Klassenbewusstsein« von Georg Lukács

Fetisch Antisemitismus

Gleich zwei neue Studien des Historikers Mario Keßler beschäftigen sich mit den Positionen der euro­päischen Arbeiterbewegung und linker Intellektueller zum Antisemitismus.

Vor 100 Jahren legte der ungarische Literaturwissenschaftler Georg Lu­kács, der zu dieser Zeit eher in Berlin und Wien lebte als in Budapest, mit seiner Essaysammlung »Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik« den Grundstein für eine Vielzahl neuer Marx-Lektüren. Nicht nur Theodor W. Adorno wurde von Lukács beeinflusst. Alle Ansätze, die das »Kapi­tal« nicht nur als eine Analyse der kapitalistischen Ökonomie, sondern auch als Kritik gesellschaftlicher Bewusstseinsformen verstehen, gehen auf diesen Impuls von 1923 zurück.

In derselben Tradition steht auch der US-amerikanische Historiker Moishe Postone, dessen Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« (1979) für die antideutsche Kritik des Antisemitismus in der Linken zentral ist. Postone bezeichnet die moderne Judenfeindschaft als »eine besonders gefährliche Form des Fetischs« und wandte den Begriff auf etwas an, das weder in Marx’ »Kapital« noch in »Geschichte und Klassenbewusstsein« erwähnt wird. Bis heute wird allerdings darüber gestritten, ob das, was Marx anhand des Waren- oder Geldfetischs analysierte, auf den Antisemitismus übertragen werden kann. Die Debatte kreist oft um die Frage, ob Judenfeindschaft wirklich ein »notwendig« falsches Bewusstsein sei.

Leider ignoriert Keßler, der sich schon zu DDR-Zeiten um die Aufarbeitung des linken Antisemitismus verdient gemacht hat, bis heute die Arbeiten Postones und die Kritische Theorie.

Mit Lukács ließe sich die Frage auch so stellen: Sind alle Menschen gleichermaßen in fetischisierten Denkweisen gefangen, oder verfügt eine gesellschaftliche Gruppe über das Privileg, hinter den Schleier der Verhältnisse blicken zu können? Denn »Geschichte und Klassenbewusstsein« durchzieht ein grundlegender Widerspruch: So zeigt Lukács, wie sich das fetischisierte, verdinglichte Denken »immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das ­Bewusstsein der Menschen« gräbt. Zugleich soll das Proletariat erkennen können, wie die kapitalistische Gesellschaft an sich beschaffen ist. Natürlich nicht jede einzelne Arbeiterin und jeder einzelne Arbeiter. Aber vereint im »proletarischen Klassenbewusstsein«, als kommunistische Partei, wisse das Proletariat, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Schon Jahrzehnte vor Postone bezeichneten Mitglieder kommunistischer Parteien die Judenfeindschaft als Glaube an einen »Fetisch«. 1930, nach den ersten ungeheuren Wahlerfolge der NSDAP, schrieb Albert Schreiner, ein Gründungsmitglied der KPD, der Antisemitismus liege »auf derselben Ebene« wie die Bräuche von »Zauberern und Medizinmännern« in traditionellen afrikanischen Gesellschaften, die den »enttäuschten Gläubigen einen abgesetzten Fetisch opfern«. Von dem rassis­tischen Weltbild einmal abgesehen, stand Fetisch hier für nichts weiter als einen Irr- oder Aberglauben. Mit Marx’ oder Postones Fetischkritik hat das nichts gemeinsam.

Dokumentiert wird Schreiners Text in Mario Keßlers kürzlich erschienener Studie »Sozialisten gegen Antisemitismus. Die Judenfeindschaft und ihre Bekämpfung (1844–1939)«. Der Historiker, der bis zu seiner Emeritierung 2021 an der Universität Potsdam lehrte, trägt darin die wichtigsten Positionen der europäischen und russischen Linken zum Zionismus, zum jüdischen Selbstverständnis und gegen den Judenhass zusammen; in einzelnen Kapiteln analysiert Keßler die Schriften von Moses Hess, Friedrich Engels, die Position der SPD bis zu der der Kommunistischen Internationalen. Dabei kommt er um das Thema Antisemitismus von links nicht herum.

Leider ignoriert Keßler, der sich schon zu DDR-Zeiten durchaus um die Aufarbeitung des linken Antisemitismus verdient gemacht hat, bis heute die Arbeiten Postones und der Kritischen Theorie. Auch der Erklärungsansatz Thomas Haurys wird im Buch nicht diskutiert, obwohl Keßler aus dessen Studie »Antisemitismus von links« (2002) zitiert. Haury führte darin die Judenfeindschaft in der KPD und der SED auf einen besonderen kommunistischen Nationalismus zurück. Keßler hingegen reduziert das Problem an mehreren Stellen auf die banale Erkenntnis, die Linke habe bis zum Zweiten Weltkrieg zu wenig gegen Judenfeindschaft unternommen.

Im Krisenjahr 1923, in dem die KPD auf eine baldige Revolution hinarbeitete, wurde das Problem des linken Antisemitismus offenkundig. Um eine breite Basis zu gewinnen, fischten führende KPD-Mitglieder im rechtsextremen Milieu nach neuer Gefolgschaft. Hermann Remmele trat auf einer NSDAP-Versammlung in Stuttgart auf. Ruth Fischer, die ein Jahr später KPD-Vorsitzende wurde, ermunterte ihr völkisches Publikum, »das Judenkapital« zu attackieren. Beide waren der Ansicht, dass sich hinter dem Judenhass eigentlich Antikapitalismus verberge. Der Anarchist Rudolf Rocker, der diese Agitation scharf verurteilte, sprach von ­einem »Verbrechen gegen den Geist des Sozialismus«. Keßler jedoch sieht darin lediglich einen Ausdruck der »Ignoranz« der KPD gegen die »vielschichtigen Dimensionen des Antisemitismus«.

Was Judenhass anrichten kann, wurde im November 1923 offenbar. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen machten mehrere Tausend Menschen im Berliner Scheunenviertel Jagd auf alle, die sie als »Juden« identifizierten. Der völkische Mob plünderte Geschäfte und drang in Wohnungen ein. Die SPD gab der KPD eine Mitschuld an dem Gewaltausbruch. Doch beide Arbeiterparteien hatten das Problem, dass eher die eigene Klientel an den antisemitischen Ausschreitungen beteiligt war als die Anhängerschaft der NSDAP.

Auch beim Antizionismus fällt Keßler hinter seine früheren Erkenntnisse zurück. Die antisemitische ­Gewalt in Palästina im Spätsommer 1929 bezeichnet er nun als »jüdisch-arabische Zusammenstöße«. Dabei beschreibt er selbst, dass die Angriffe von einem muslimischen und christlich-arabischen Mob ausgingen, während die Jüdinnen und Juden sich dagegen zu verteidigen suchten. Die Kommunistische Internationale sah in der Gewalt damals den Beginn einer antiimperialistischen »nationalen Befreiungsbewegung«.

Umso wichtiger ist Keßlers zweite neue Veröffentlichung: »Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus«. Trotzki warnte seit den frühen zwanziger Jahren vor der Judenfeindschaft, auch in den Reihen der Bolschewiki. In seinem Aufsatz »Thermidor und Antisemitismus« (1937) zeigte er, wie sich in der ­Sowjetunion ein »neuer« Antisemitismus entwickelt hat, den er als ­Judenfeindschaft »sowjetischer Spielart« bezeichnet. Alte Ressentiments bestünden trotz der Revolution weiter, ein Hass gegen die sowjetische Bürokratie habe sich breitgemacht, sodass es nur einige wenige Anspielungen von Stalin und seiner Gefolgschaft brauchte, um »von Neuem eine antisemitische Atmosphäre zu schaffen«. Trotzkis Analyse, in der er sich mit Andeutungen und Doppeldeutigkeiten beschäftigt, ist nicht nur zum Verständnis des Antisemitismus in der Linken lesenswert. Auch die Neue Rechte verwendet heute derartige Codes.

Ein Buch, aus dem Keßler mehrmals zitiert, liegt bislang nur auf Russisch vor: Jurij Larins »Die Juden und der Antisemitismus in der UdSSR« von 1929. Der Soziologe veröffentlichte darin die Ergebnisse aus Umfragen innerhalb des russischen Proletariats. Als wichtiges Zeitdokument sollte es dringend ins Deutsche oder Englisch übersetzt werden. Das Buch gehört zu den wenigen offiziellen Quellen, die den Antisemitismus in der Arbeiterklasse behandeln. Bei der »Bekämpfung des Antisemitismus« versage der bolschewistische Staat, so Larin, weil man der Überzeugung sei, dass »die Arbeiterklasse gegen antisemitische Gefühle immun sei«.

Allerdings widerspricht sich Larin selbst, wenn er den Antisemitismus dem »rückständigen, mit der Bauernschaft verbundenen« Teil der Arbeiterklasse zuschreibt. Das mo­derne Proletariat sollte also von der Judenfeindschaft frei sein – so wie Lukács zufolge das Proletariat, in der Partei vereint, sich von allen fetischisierten Denkweisen befreie.

Lukács, der nach der Abfassung von »Geschichte und Klassenbewusstsein« zum Stalinisten wurde, wollte vom Antisemitismus in den eigenen Reihen nichts wissen, obwohl er selbst aus einer jüdischen Familie kam. 1954, nach den anti­­semitischen Schauprozessen in der ČSR, schrieb er noch, die »Ideologie des Kosmopolitismus« sei eine des »(prinzipiellen) Vaterlandsverrats«. Unter Stalin war »Kosmopolitismus« ein Code für »wurzellose Juden«.

Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer ­Bekämpfung (1844–1939). VSA, Berlin 2022, 368 Seiten, 26,80 Euro
Ders. (Hrsg.): Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus. Dietz, Berlin 2022, 192 Seiten, 12 Euro