Was hinter dem Gerede vom "neuen amerikanischen Antisemitismus" steckt

Die böse Brut aus dem Schmelztiegel

Von Kanye West bis Dave Chappelle: Die jüngsten antisemitischen Äußerungen von US-Unterhaltungskünstlern werden als Symptom eines neuen amerikanischen Judenhasses gedeutet. Dabei wird Antisemitismus auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit reduziert.

»Amerika war nie frei von Antisemitismus«, schrieb jüngst unter der Überschrift »Superstars auf Abwegen – Amerikas neuer Antisemitismus erobert den Mainstream« die britische Publizistin Zoe Strimpel im Tagesspiegel und erinnerte: »Die eiserne Entschlossenheit, Boote voller Juden, die aus Nazi-Europa flohen, zurückzuweisen, ist nur eines der traurigeren Beispiele.« Dass die restriktiven Einwanderungsbestimmungen, die in den Vereinigten Staaten bis in die frühen vierziger Jahre hinein für europäische Juden galten, nicht in einer heimlichen Allianz zwischen US-Außenpolitik und deutscher Volksstaatsideologie, sondern in der Unterschätzung des irrationalen Potentials der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Expansionspolitik begründet waren, übergeht Strimpel ebenso wie die Tatsache, dass es damals zwar einen auf ganz Europa ­zielenden deutschen Antisemitismus sowie unterschiedliche faschistische Bewegungen in europäischen Staaten, aber kein »Nazi-Europa« gab. Doch der Topos vom US-amerikanischen Antisemitismus dient der Autorin eher als Framing, um ein konkreteres Phänomen zu thematisieren: die »falsch verstandene Leidensrivalität«, die in einer »afroamerikanischen Judenfeindlichkeit« zum Ausdruck komme.

Als prominente Vertreter des von Opferkonkurrenz befeuerten Antisemitismus fungieren in den USA seit einiger Zeit nicht mehr nur Unterhaltungskünstler der Rap- und HipHop-Branche, die sich schon lange als Sprachrohre einer vom westlichen Kolonialismus unterdrückten Minderheit gerieren – so hatte sich der Rapper Ice Cube 2020 in mehreren Tweets über »jüdische Geschäftsleute« mokiert, die auf dem Rücken schwarzer Menschen »Monopoly« spielen würden. Immer häufiger schlüpfen auch Comedians in diese Rolle. Obwohl Comedy in den USA – anders als in Deutschland, wo sie fast ausschließlich der Kollektivabfuhr staatskonformistischer Ressentiments dient – vielfältig ist und »woke« ebenso wie libertäre und konservative Entertainer umfasst, wird sie immer deutlicher durch eine Allianz von Ironie und Häme geprägt, die antisemitische Affekte begünstigt. Am Fall des afroamerikanischen Comedian Dave Chappelle, der sich in ­seinen Auslassungen halb ironisch, halb affirmativ auf judenfeindliche Invektiven des Rappers und Trump-Freundes Kanye West bezog, zeigt sich dieser Zusammenhang exem­plarisch.

Dass Antisemitismus nicht das Gleiche ist wie »Hassrede« gegen Minderheiten, dass er seiner Qualität nach von der in Deutschland so gern angeprangerten »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer) unterschieden ist – das wollen deutsche Kritiker von Chappelle, West & Co. genauso wenig sehen wie deren Anhänger.

Als Chappelle Mitte November die Saturday Night Live-Ausgabe von NBC gestaltete, empfahl er West angesichts von dessen Äußerungen über den Einfluss von Juden auf das Show-Geschäft, sich künftig durch den Satz »Ich verachte Antisemitismus in allen seinen Formen« zu ­immunisieren, und behauptete, eine Regel der Unterhaltungsbranche im Umgang mit problematischen Minderheiten sei: »Wenn es sich um Schwarze handelt, ist es eine Gang. Wenn es Italiener sind, ist es ein Mob. Aber wenn es sich um Juden handelt, ist es ein Zufall, darum sollte man niemals darüber sprechen.« Wests Aussagen über den ­Einfluss von Juden auf die Show-Branche kommentierte er: »Ich war in Hollywood. Bitte fallt nicht über mich her, aber ich sage euch, was ich gesehen habe: Es gibt dort sehr viele Juden.« Garniert hatte Chappelle seine Aussagen mit mokant-kumpelhaften Bemerkungen über West, den er zwar nicht für verrückt, aber für nicht ganz auf der Höhe halte, sowie über den afroamerikanischen Basketballspieler Kyrie Irving, der kritisiert worden war, weil er für Ronald Daltons Film »Hebrews to Negroes: Wake Up Black America« geworben hatte, der die Wahnvorstellung einer gegen die »schwarze Rasse« gerichtete jüdischen Weltverschwörung verbreitet. Über Irving sagte Chappelle: »Kyrie Irvings schwarzer Arsch war nie in der Nähe des Holocausts. Er ist sich nicht einmal sicher, ob es den Holocaust gegeben hat.«

Wie das Ressentiment als verbindender Affekt fungiert, der auch spöttische und verächtliche Gesten zwischen den im Ressentiment vereinten Mitgliedern der gleichen Gemeinschaft erlaubt, lässt sich an diesen Beispielen ablesen. Nicht zufällt bezieht sich Chappelle mit West und Irving auf Angehörige der Community, der er selbst angehört. Unter Gemeinschaftsmitgliedern, die in der Verachtung der »jüdischen Geschäftswelt«, des »jüdischen Show-Business« und des »jüdischen Hollywood« einig sind, sind Gesten der gegenseitigen Herabsetzung erlaubt, insofern sie die Häme über diejenigen, die nicht zur Gemeinschaft gehören, nicht stören. Die Comedy, die auf Kumpanei statt auf Kritik zielt, ist das adäquate Medium für solches Ressentiment. Zugleich täuscht die Kumpanei über die Unterschiede zwischen den Verbundenen hinweg. Irving, der Anschauungen der »Flat Earther«-Szene teilt, sich aus Furcht vor medikamentösen Manipulationen nicht gegen Covid-19 hat impfen lassen und mit seiner so hermetischen wie eklektischen Weltanschauung tatsächlich jenem Verschwörungsdenken zugerechnet werden kann, das oft genug nur als Schimpfwort für jegliche Kritik verwendet wird, pflegt einen Outlaw-Kultus, der seine Wahnvorstellung von jüdischer Übermacht bestärkt.

Kanye West insinuiert ebenfalls, die Schwarzen seien die Juden von heute, und halluziniert in Interviews Zusammenhänge zwischen den Chanukka-Fest und dem Finanzkapital, scheint dabei aber – ähnlich wie Trump, für den er bei den nächsten Präsidentschaftswahlen als Vize ­kandidieren möchte – eher als durch eingebildete Zugehörigkeit zu einer geknechteten Minderheit durch die leere Empörung darüber getrieben zu sein, dass bestimmte Formen öffentlicher »Hassrede« zu Recht verboten sind. Seine jüngsten Twitter-Ausfälle, die Elon Musk motivierten, seinen Account zu sperren (»Ich mag Hitler. Dieser Kerl … hat Autobahnen erfunden und das Mikrophon, das ich als Musiker benutzt habe«), wirken weniger wie die Propaganda eines David-Irving-Wiedergängers als wie der Tobsuchtsanfall eines schwer erziehbaren Jungen, der sich ärgert, dass Papa ihm auf die Finger gehauen hat.

Doch für solche Differenzen interessiert sich Dave Chappelle ebenso wenig wie die deutschen Medien, die als »neuen amerikanischen Antisemitismus« alles zusammenrühren, was ihnen als Ausgeburt des ohnehin verhassten Schmelztiegels erscheint. West ist dieser Optik gemäß nicht unerträglich, weil er ein zu white supremacy konvertierter black supremacist, sondern weil er ein Intimus von Trump ist; Irving nicht deshalb, weil er judenfeindliche Propagandafilme empfiehlt, sondern weil er Coronaleugner ist; selbst Chappelle erregt zuvorderst Anstoß, weil er sich bei seinen Auftritten über Transgender-Menschen lustig macht, die nichts anderes betrieben als sexualpolitisches Blackfacing. Dass Antisemitismus nicht das Gleiche ist wie »Hassrede« gegen Minderheiten, dass er seiner Qualität nach von der in Deutschland so gern angeprangerten »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer) unterschieden ist – das wollen deutsche Kritiker von Chappelle, West & Co. genauso wenig sehen wie deren Anhänger.