Politische Gewalt und Religion in Japan

Irrationalismus bleibt Privatsache

In Japan sind trotz des ausgeprägten Säkularismus politische Gewalt und Religion oft verknüpft.

»Der Mord wird Japan traumatisieren«, war sich die Nachrichtenagentur Reuters noch am 8. Juli, dem Tag des Attentats auf den ehemaligen japanischen Ministerpräsidenten Shinzō Abe, sicher. Denn politische Gewalt sei in Japan selten, »der letzte große politische Mord ereignete sich 1960«, so Reuters. Ähnliche Einschätzungen fanden sich in den Tagen nach dem Mord auch in deutschen Medien, bis hin zu einer großen Reportage in der Süddeutschen Zeitung eine Woche später. Darin beklagte man sich in etwas enttäuschtem Tonfall, dass die überfällige Sinnsuche der japanischen Gesellschaft nun wohl doch ausbleibe.

In der Tat kann von einem nationalen Trauma keine Rede sein. Die Oberhauswahlen fanden planmäßig zwei Tage nach dem Attentat statt und japanische Medien berichteten eher wenig von der Gewalttat, um nicht den Anschein zu erwecken, vor der Wahl durch ihre Berichterstattung die Liberaldemokratische Partei (LDP) des ­Verstorbenen zu bevorzugen.

Die Trennung von Staat und Religion ist nicht nur in der Verfassung von 1946, sondern auch im politischen Alltag fest verankert.

Auch die Behauptung, es handle sich bei der Tat um eine dramatische Ausnahme, ist schwer aufrechtzuerhalten. Zwar sind Attentate auf Politikerinnen und Politiker in Japan ähnlich wie in Deutschland selten, doch gab es beispielsweise in den nuller Jahren mehrere solcher Anschläge. Größere Aufmerksamkeit erhielt die Ermordung Itchō Itōs, des Bürgermeisters von Na­gasaki, 2007. Einer seiner Amtsvorgänger, Hitoshi Motoshima, war schon 1990 von einem Rechtsextremen angeschossen worden, weil er es in einer Ratssitzung gewagt hatte, die Kriegsschuld des Kaisers offen zu benennen. Er überlebte das Attentat jedoch.

Auch wenn der Mord an Abe in Japan keine tiefgreifende Zäsur im öffentlichen Leben darstellt, so beschäftigt die Menschen dort dennoch die Frage nach dem Motiv des mutmaßlichen Täters Tetsuya Yamagami. Zwar hatte Abe während seiner Amtszeit polarisiert wie kaum ein Regierungschef vor ihm und war zu einer Hassfigur der Linken geworden. Doch der noch am Tatort festgenommene Yamagami, der vor 20 Jahren in der Marine gedient hatte, ist offenbar kein Linker. Und warum sollte jemand aus politischen Motiven einen Mann umbringen wollen, der bereits vor zwei Jahren sein Amt als Ministerpräsident niedergelegt hatte, auch wenn er in seiner Partei und im Parlament immer noch einflussreich war?

Tatsächlich ließ die Polizei schon wenige Stunden nach dem Versterben Abes verlauten, der Täter habe angegeben, sich mit der Ermordung Abes an »einer bestimmten religiösen Organisation« rächen zu wollen. Auffälligerweise übernahmen nicht nur alle japanischen Medien diese Formulierung, sondern mehrere Tage lang gab es auch keinen Versuch, über die polizeilichen Angaben hinaus etwas über die Identität dieser »bestimmten religiösen Organisation« herauszufinden. Zunächst wurden nur auf wenigen Internet-Seiten Verbindungen zur Moon-Sekte aufgezeigt. Darüber berichteten die Tageszeitungen und Fernsehanstalten aber erst mehrere Tage später, als der japanische Zweig der Moon-Bewegung eine Pressekonferenz abhielt und die Mitgliedschaft der Mutter des Täters bestätigte. Diese habe der Sekte viel Geld gespendet, wodurch die Familie zerfallen sei und wofür Yamagami sich habe rächen wollen, hieß es über das Motiv des Täters in japanischen Medien.

Man könnte die selbstauferlegte Zurückhaltung der japanischen Presse mit dem Wunsch erklären, keine Vorurteile gegen religiöse Gruppierungen zu schüren, solange die Verbindung lediglich auf einer Behauptung des Täters fußt. Doch ein weiterer Grund ist wohl das Desinteresse an investigativem Journalismus. Dass dieser in den japanischen Medien wenig verbreitet ist, hat auch institutionelle Gründe. Alle Ministerien und alle weiteren namhaften japanischen Behörden einschließlich der Polizei unterhalten sogenannte Presseclubs. Die Mitgliedschaft darin ist der einzige Weg, an aktuelle Informationen aus der jeweiligen Behörde zu gelangen. Zugleich regeln die Behörden so aber auch, welche Informationen zum Abdruck genehm sind. Wer sich daran nicht hält, fliegt aus dem Club – das aber kann sich keines der großen Medienunternehmen leisten.

Die Zögerlichkeit, die Moon-Sekte (seit dem Tod ihres Gründers Sun Myung Moon eigentlich »Familienföde­ration für Weltfrieden und Vereinigung«, auch als Vereinigungskirche bekannt) explizit zu benennen, hat aber noch andere Gründe. In Japan gibt es einen sehr breiten Konsens über einen Säkularismus in dem Sinne, dass Religion als Privatsache angesehen wird, in der öffentlichen Sphäre aber tendenziell als anstößig oder gefährlich gilt. Diese Haltung geht zurück auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen während Japans Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Japan war damals erstmals mit der Idee von »Religion« als distinkter gesellschaftlicher Sphäre konfrontiert – nachzulesen unter anderem im diesbezüglichen Standardwerk »The Invention of Religion in Japan« von Jason Ānanda Josephson von 2012 – sowie ­zugleich mit aggressiven Bekehrungsversuchen protestantischer Missionare. Die japanische Führungsschicht, die eine Modernisierung anstrebte, hatte Sorge vor einer Christianisierung und fand auch sonst wenig aus ihrer Sicht Nützliches in den großen Religionsgemeinschaften. So wurde im modernen Rechtswesen schließlich Religion nur ein Platz im privaten Leben zugestanden, ausdrücklich separat von den drei öffentlichen Sphären des als nichtreli­giöses Brauchtum definierten Shintō inklusive Kaiserkult, der schulischen Erziehung und der Politik.

Auch heute noch ist die Trennung von Staat und Religion nicht nur in der Verfassung von 1946, sondern auch im politischen Alltag fest verankert. Selbst die an der Regierungskoalition beteiligte Partei Kōmeitō, deren Wählerinnen und Wähler praktisch zu 100 Prozent aus Mitgliedern der buddhistischen Neureligion Sōka Gakkai bestehen, ­dementiert beharrlich irgendeine Verbindung zu jener Gruppierung. Wenn sich Politiker dann doch einmal nicht nur als Privatperson zu religiösen ­Gemeinschaften bekennen, dann wird dies kaum als öffentliches, also der ­Berichterstattung würdiges Handeln verstanden. So war es auch im vorliegenden Fall. Einzig die Rote Fahne, das Organ der Kommunistischen Partei ­Japans, berichtete im September vergangenen Jahres von dem Auftritt Abes (übrigens zusammen mit Donald Trump) bei der feierlichen Versammlung der Universal Peace Federation, einer Tochterorganisation der Moon-Sekte, deren Vorsitzende Moons Witwe Hak Ja Han ist.

Bei politischen Attentaten besteht in Japan jedoch bisweilen ein enger Zusammenhang zu Religion. Schon die historische Attentatsserie auf Politiker der dreißiger Jahre wurde eingeläutet von der faschistischen »Blutliga«, die ein buddhistischer Prediger gegründet hatte. Diese Gruppe plante 1932 Attentate auf 20 Geschäftsleute und liberale Politiker und tötete schließlich einen ehemaligen Finanzminister und einen Unternehmer. 1995 überraschte die Sekte Ōmu Shinrikyō (nach der englischen Transkription auch Aum-Sekte genannt), die ebenfalls buddhistische Wurzeln hatte, die Öffentlichkeit mit ihrem verheerenden Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn, der gegen den japanischen Staat gerichtet war.

Solange man Religion in Japan nicht auch als politisch und als Teil der öffentlichen Sphäre begreift, verwundert es nicht, dass die Medien Abes Beziehungen zu religiösen Gruppierungen entweder nicht ernst nahmen oder ihn vor rufschädigenden Assoziationen schützen wollten. Man wird dann wohl auch weiterhin, wie im Falle des Attentats vom 8. Juli geschehen, mit Unverständnis vor den Motiven des Täters stehen und diese als unerklärbar hinnehmen.