Kleine Experimente
Spätestens seit Yascha Mounk 2015 in einem offenen Brief in der Zeit seinen Austritt aus der SPD öffentlichkeitswirksam kundtat, ist der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler einem größeren Publikum in Deutschland bekannt. Der Partei warf er vor, sie habe in der Finanzkrise in Griechenland ebenso wie in der Russland-Politik und bei der Aufnahme von Geflüchteten versagt. Den Umgang mit Migranten in Deutschland nannte er »unwürdig«.
Kurioserweise machten rechte Milieus Mounk nur drei Jahre später zum Kronzeugen ihrer Umvolkungsthese. 2018 hatte der an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts unterrichtende Politikwissenschaftler in einem Interview mit den »Tagesthemen« die deutsche Migrationspolitik mit den Worten kommentiert: »Wir wagen hier ein Experiment, das in der Geschichte einzigartig ist, und zwar eine monokulturelle Demokratie in eine multikulturelle Demokratie zu verwandeln.« Binnen weniger Stunden erhob sich in den einschlägigen Online-Foren ein wahres Triumphgeheul. Endlich habe sich ein Vertreter der Elite – noch dazu ein Jude – »verplappert« und bestätigt, was rechte Kreise schon längst wussten: dass sich die »Altparteien« verschworen haben, die alten Nationalstaaten durch multikulturelle Diktaturen zu ersetzen und die Bevölkerung auszutauschen.
»Um das Selbstverständliche noch einmal klar zu formulieren: Angela Merkel und ich haben uns nicht zu einem großen Experiment am deutschen Volk verabredet.« Yascha Mounk
Mounks jetzt erschienenes Buch greift das Reizwort »Experiment« bereits im Titel auf: »Das große Experiment – Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert«. Darin bekennt er, wie sehr ihm die Fehlinterpretation zugesetzt habe. Seine Absicht sei es gewesen, die Herausforderung zu beschreiben, die Migration für einen Staat mit (wie er meint) bislang relativ homogener Bevölkerung wie Deutschland bedeute. Mounk entschloss sich also, auf den Shitstorm ausführlich zu antworten und darzulegen, warum die »diverse Gesellschaft« eine Herausforderung sei und wie diese bewältigt werden könne. »Um das Selbstverständliche noch einmal klar zu formulieren: Angela Merkel und ich haben uns nicht zu einem großen Experiment am deutschen Volk verabredet«, schreibt der Autor in der Einleitung.
Mounk betrachtet »diverse Demokratien« nicht einfach als historische Gegebenheiten, er befürwortet sie explizit. Kulturelle Vielfalt bereichere das Leben, und die Empirie zeige, dass diejenigen, die in multikulturellen Gemeinschaften aufwachsen, toleranter, offener und letztlich auch glücklicher seien. Der kulturelle Austausch erlaube Innovationen und erweitere den Horizont. Das Gesellschaftsmodell sei aber von zwei Seiten bedroht: Zum einen von der politischen Rechten, der Mounk vorwirft, einem irrationalen Ideal ethnischer Homogenität anzuhängen, das mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar sei. Zum anderen von der Linken; ihr attestiert Mounk ein paradoxes Verhältnis zur Vielfalt. Die Linke befürworte zwar vorbehaltlos die Aufnahme von Geflüchteten, spreche der Mehrheitsgesellschaft aber jede Bereitschaft ab, gleichberechtigt mit den Zugewanderten zusammenzuleben.
Der Pessimismus von rechter und der von linker Seite schadeten der Sache gleichermaßen. Mounk geht noch weiter: Die Linke fixiere sich immer mehr auf ethnische Konflikte und falle so hinter ihren ursprünglichen Universalismus zurück. Forderungen wie die nach Entschädigungen für diskriminierte Bevölkerungsgruppen spalteten die Gesellschaft entlang ethnisch-kultureller Linien. Trotz Ergänzungen in der deutsche Ausgabe merkt man dem zuerst in den USA erschienenen Buch deutlich an, dass die Analyse oftmals auf US-amerikanische Verhältnisse Bezug nimmt.
Ausführlich widmet sich Mounk den Ursachen des Scheiterns multikultureller Gesellschaften. In den liberalen Demokratien des Westens gelte die kulturelle Prägung als Privatsache; der Staat verzichte darauf, den Rassismus aktiv zu bekämpfen, und unterlaufe damit den Gleichheitsanspruch der Demokratie. Die kulturelle Mehrheit könne ungestört ihre Präferenzen durchsetzen, ohne Minderheiten formell entrechten zu müssen.
Kaum besser sei es jedoch in Staaten, die versuchten, ethnische Pluralität institutionell abzusichern, um die friedliche Koexistenz verschiedener Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Eine Reihe von Staaten in Afrika und dem Nahen Osten etablierte nach Erlangung der Unabhängigkeit weitgehende Gruppenrechte, um kulturelle Konflikte zu befrieden. Im Libanon beispielsweise wurden 1943 mit dem sogenannten Nationalpakt die Präsidentschaft, das Premierministeramt und der Vorsitz des Parlaments unter Sunniten, Schiiten und Christen aufgeteilt, die drei Gruppen erhielten weitgehende Autonomie in zivilrechtlichen Fragen. Mounk sieht auch darin einen Irrweg: Der demokratische Staat gebe so seine Entscheidungsmacht an ungewählte religiöse oder ethnische Führer ab. Wer nicht nach den Regeln seiner Gruppe leben will, hat das Nachsehen. Der langfristige Erfolg ist ohnehin überschaubar, im Libanon begann 32 Jahre nach dem Nationalpakt in ein blutiger Bürgerkrieg.
Für die Probleme, die der Autor in den ersten zwei Dritteln des Buchs kenntnisreich beschreibt, kann er am Ende allerdings kaum taugliche Lösungen anbieten. Die im Klappentext versprochene »Gebrauchsanweisung für unsere plurale Gesellschaft« liefert er nicht. Mounk fordert, die »diverse Demokratie« solle allen Bürgern unabhängig von kulturellen Zugehörigkeiten Teilhabe und eine Chance auf Wohlstand garantieren. Um das zu erreichen, fällt ihm nur ein Reformprogramm ein, das wohl selbst der SPD reichlich unambitioniert erscheinen würde: Sozialleistungen müssten »erhalten und ausgebaut« werden und Bildung müsse einen Aufstieg ermöglichen.
Mounk bleibt zu sehr dem liberalen Denken verhaftet, um die kulturellen Konflikte zwischen Minderheiten und Mehrheit als Ausdruck inhärenter Konkurrenzverhältnisse begreifen zu können – im Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt erscheint das ethnische Kollektiv als Zuflucht, der individuelle Kampf um knappe Ressourcen erhält eine identitäre Komponente. Mounk, der Arme konsequent als »Unterprivilegierte« bezeichnet, würde mit seinen Vorschlägen höchstens Waffengleichheit im Konkurrenzkampf erreichen.
Anstelle eines politischen Programms formuliert Mounk lediglich einen moralischen Appell: Die verschiedenen kulturellen Gruppen sollten sich auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen und einander mit Respekt begegnen. Mounk kann aber nicht darlegen, was diese Gruppen über die gemeinsame Staatsbürgerschaft hinaus verbindet. Ersatzweise empfiehlt er das Modell des Verfassungspatriotismus nach US-amerikanischem Vorbild. Gemeinsam gelebte Treue zu demokratischen Werten und Rechtsstaatlichkeit könnte Zusammenhalt und »echte Solidarität« schaffen. Wie ein Hohn muss das für diejenigen klingen, für die der Rechtsstaat wenig mehr als Abschiebehaft zu bieten hat.
Das Buch bietet aufschlussreiche Rückblicke auf die Geschichte multikultureller Gesellschaften, aber nur wenige Ausblicke. Mounk zitiert ausführlich Statistiken, die zeigen sollen, dass die Gleichstellung von Minderheiten Fortschritte macht. In den USA habe sich der Wandel von der Politik der Rassentrennung und Lynchmorde bis zur Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten innerhalb der Spanne eines Menschenlebens vollzogen; Untersuchungen wiesen nach, dass Migranten immer häufiger Bildungs- und Berufserfolge erzielten. An einer Stelle zitiert er eine Berechnung der New York Times: Von 100 Kindern, die in das ärmste Fünftel der schwarzen Bevölkerung in den USA geboren werden, können 33 den Aufstieg in die Mittelschicht schaffen, sechs könnten sogar in das reichste Fünftel aufsteigen. Für Mounk ist das eine Erfolgsmeldung. Wer nachrechnet, wird ernüchtert feststellen, dass der Rassismus so noch viele Generationen überdauern wird.
Yascha Mounk: Das große Experiment – Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert. Aus dem Englischen von Johanna Fierlings. Droemer-Verlag, München 2022, 352 Seiten, 22 Euro