Der Liebesfilm »Wo in Paris die Sonne aufgeht« spielt in einer Hochhaussiedlung

Sozialrealistische Romantik

Im 13. Pariser Arrondissement spielt der neue Film von Jacques Audiard, in dem sich mehrere Geschichten zu einem großen Knäuel aus Liebe und Frustration verbinden.

Die Filme von Jacques Audiard drehen sich – ob im Genre-Remake »Der wilde Schlag meines Herzens« (2005), dem Gefängnis-Drama »Ein Prophet« (2009) oder im Neo-Western »The Sisters Brothers« (2018) – außer um die akribische Schilderung abseitiger Milieus wesentlich um die Entwicklung starker männlicher Prot­agonisten und die Feinheiten ihres mitunter überempfindlichen Seelenlebens. Einen Sehnsuchts- und Beziehungsreigen im unsentimental-sentimentalen Stil französischer Ensemblefilme hätte man von dem vor allem in Frankreich mit allen wichtigen Preisen dekorierten Regisseur eher nicht erwartet. Mit »Wo in Paris die Sonne aufgeht« hat der deutsche Verleih noch dazu für die Vermarktung des Films einen Titel gewählt, der den romantischen Aspekt zusätzlich in den Vordergrund rückt und vielleicht sogar eine Nähe zur dialoglastigen Pariser Liebesfilmtrilogie »Before Sunrise« (1995), »Before Sunset« (2004) und »Before Midnight« (2013) von Richard Linklater suggerieren will. Ganz falsch ist das nicht, aber es unterschlägt, dass es Audiard gelingt, einen tatsächlich frischen Blick aufs Sujet zu eröffnen. Neben den interessanten Charakteren tragen dazu vor allem die nüchternen Schwarzweißbilder des Kameramanns Paul Guilhaume bei – und das Wohnhochhausensemble »Les Olympiades« aus den frühen siebziger Jahren im 13. Pariser Bezirk, wo der Film spielt und nach dem er im Original so schlicht wie treffend benannt ist.

Hier wohnt die chinesischstämmige Émilie (Lucie Zhang) in der geräumigen Wohnung ihrer Großmutter. Letztere leidet an Alzheimer und fristet ihr Dasein in einem Heim, während die von ihrer Großfamilie weitgehend entfremdete Enkelin sich immer wieder Ausreden einfallen lässt, um sie nicht besuchen zu müssen. Wie so viele Vertreterinnen ihrer Generation weiß sie nicht, was sie nach dem Studium mit ihrem Leben anfangen soll.

Zu Beginn des Films jobbt sie in einem Callcenter, geht aber, da sie ihre Kunden gern in absurde Gespräche verstrickt, nicht zu Unrecht davon aus, dass sie irgendwann gefeuert werden wird, weshalb sie zur Aufbesserung ihrer Haushaltskasse eine Mitbewohnerin sucht. Statt dieser findet sie Camille (Makita Samba), einen gutaussehenden und hochintelligenten, aber tief frustrierten schwarzen Lehrer. Noch am Abend nach dem Vorsprechen für das Zimmer wird er Émilies Liebhaber. Etwa eine Woche lang haben sie begeistert Sex, dann jedoch stellt sich heraus, dass sie völlig unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was daraus folgen soll oder kann. Während Émilie sich verliebt, besteht Camille darauf, allein körperlich interessiert zu sein. Oberflächliche Abenteuer sollen ihn über die Leere seines Berufs hinwegtrösten, mehr nicht. Sich der jungen Frau zu öffnen oder eine ernsthafte Beziehung mit ihr einzugehen, dazu ist er nicht bereit. So schnell er in Émilies Leben eingebrochen ist, verschwindet er auch wieder daraus.

In einem zweiten Erzählstrang zieht die etwa 30jährige Nora (Noémie Merlant) von Bordeaux ins 13. Pariser Arrondissement, um ein Jurastudium aufzunehmen. Sie ist unter anderem auf der Flucht aus einer unguten Beziehung mit einem angeheirateten Onkel und zunächst von ihrem Blick auf die Seine, der asiatischen Prägung des Viertels und seiner Uninähe begeistert. Doch schnell wendet sich das Blatt. Dass sie mit blonder Perücke und kurzem Kostüm dem Camgirl Amber Sweet (Jehnny Beth), einer unter Studenten bekannten Web-Sexarbeiterin, zum Verwechseln ähnlich sieht, beschert ihr peinliche Momente im Club und in der Folge auch im Seminar. Dort hat sie sich aufgrund des Altersunterschieds zu ihren Kommilitoninnen sowieso als Fremdkörper empfunden. Nun wird sie offensiv gemobbt – und die Demütigung macht das Studium und damit ihr neues Leben für die offensichtlich unsichere Frau zu einem einzigen, nicht zu ertragenden Spießrutenlauf. Also fängt sie ein weiteres Mal neu an. Statt weiter zu studieren, beginnt sie, in einem ­Immobilienbüro zu arbeiten.

Die Charaktere, in einem Moment charmant und voller Einfühlungsvermögen, schlagen im nächsten überheblich und egozentrisch auf ihre Nächsten ein, ohne deren Schmerz auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Hier kreuzen sich die Handlungen. Denn das Büro hat zwischenzeitlich Camille von einem Freund übernommen, um der Misere des Lehrerdaseins zu entfliehen. Er stellt die im Immobiliengeschäft bereits erfahrene Nora ein, lässt sie die Kunden betreuen und schreibt nebenbei an seiner Doktorarbeit. Doch bald schon verliebt er sich in die neue Angestellte, die ihm gegenüber seltsam unentschlossen bleibt, auch als sie schließlich die von ihm gewünschte Beziehung eingeht. Währenddessen versucht Émilie, der sich Camille als Freund wieder angenähert hat, ihre lieblose Existenz mit Dating-App-Abenteuern zu füllen, von denen sie ihm regelmäßig berichtet, und auch Nora verliert sich in den Weiten des Web, in denen sie die Nähe zu Amber Sweet sucht.

In einer sozialrealistischen Romantikkomödie voller Enttäuschungen und bisweilen schroffer, andere Male erotischer oder zärtlicher Impulsivität stolpern die Charaktere durch eine ganz und gar unromantische Großstadtlandschaft, in der ­immerhin Herkunft und Hautfarben keine wesentliche Rolle zu spielen scheinen. In einer deutschen Produktion wäre die Zusammensetzung des großartigen Ensembles sicherlich nur denkbar gewesen, wenn entsprechende Konflikte im Drehbuch stehen. Offenbar ist Frankreich zumindest in seinen nichtbürgerlichen Wohnsiedlungen den hiesigen Verhältnissen den einen oder anderen Schritt voraus, wenn es ums urbane Zusammenleben geht.

Grundlage für das Drehbuch waren drei Kurzgeschichten im Graphic-Novel-Format des New Yorker Cartoonisten Adrian Tomine. Gemeinsam mit den beiden bereits selbst als Regisseurinnen etablierten Drehbuchautorinnen Léa Mysius (»Ava«, 2017) und Céline Sciamma (»Porträt einer jungen Frau in Flammen«, 2019) hat Audiard sie für seinen Film adaptiert. Dabei sind so interessante wie ambivalente Charak­tere entstanden, die verzweifelt-zweifelnd nach einem Leben ohne Einsamkeit suchen. In einem Moment charmant und voller Einfühlungsvermögen, schlagen sie im nächsten überheblich und egozentrisch auf ihre Nächsten ein, ohne deren Schmerz auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Stand die bedingungslose, aus Lust geborene Liebe in Audiards »Der ­Geschmack von Rost und Knochen« von 2012 in ihrer wuchtigen Absolutheit noch ganz in der Tradition machistischer Amour fou-Erzählungen, hat sich – wohl nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Mysius und Sciamma – der Blick auf Sex und ­Begehren in »Wo in Paris die Sonne aufgeht« deutlich verändert. Nun geht es nicht nur um die Aus- und Nachwirkungen der Lust, sondern gleichermaßen um ihre Bedingungen, um die Spannung, ob es gelingen wird, sie, wenn der Moment dafür gekommen ist, zu genießen.
Selbstverständlich wird auch in diesem Film viel nackte Haut gezeigt. Aber es wird auch darüber nachgedacht, wie sich die an ihr entstehende Reibung auf die Einstellungen und Haltungen ihrer stets zwischen Desillusionierung und Hoffnung hin- und hergeworfenen Träger auswirkt. Und welcher Selbstfindungsprozesse es bedarf, um zunächst einmal das eigene Verlangen zu erkennen und sich mit ihm anzufreunden. Daraus ergeben sich Erkenntnisse in Form blitzartiger Einschläge und nachhallender Emotionen – für die Protagonisten wie das Publikum.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (F 2021). Buch: Jacques Audiard, Céline Sciamma, Léa Mysius. Regie: Jacques Audiard. ­Darsteller: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth. Filmstart: 7. April