Ein Gespräch mit Juan Carlos Arce über die Prozesse gegen Oppositionelle in Nicaragua

»Das Ausmaß an Autoritarismus ist unvorstellbar«

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In Nicaragua finden derzeit Prozesse gegen zahlreiche politische Gefangene statt oder werden vor­bereitet. Betroffen sind 46 Oppositionelle, darunter mehrere ehema­lige Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten, sowie Medienschaffende, Teilnehmer regierungs­kritischer Proteste und Menschenrechtler. Sieben Urteile wurden am 23. Februar bekanntgegeben. Halten sich die Verfahren an internationale Standards?

Nein, diese Prozesse sind enorm willkürlich. Ich bin Jurist und kann mich an nichts Vergleichbares in den vergan­genen zehn Jahren entsinnen. Das sind Schnellverfahren, die kaum sechs Stunden dauern, obwohl sie komplexe Sachverhalte beinhalten, und sie sind nicht öffentlich, nur die Anwälte und maximal ein Familienmitglied werden zugelassen. Die Angeklagten haben kaum eine Chance, mit ihren Anwälten zu sprechen, die Presse war ausgeschlossen.

Waren internationale Beobachter zugelassen, Botschaftsangehörige zum Beispiel?

Nein, ebenfalls nicht. Zudem gab es direkte Interventionen des Staatsanwalts, der es etwa im Fall von Lesther Ale­mán, einem der Anführer der studentischen Protestbewegung, unterband, dass Anwalt und Angeklagter miteinander sprachen. Das Einzige, was Ale­mán sagen konnte, bevor er zum Schweigen gebracht wurde, war: »Ich bin unschuldig.«

»Die Prozesse sollen Nicaraguas Zivilgesellschaft zum Verstummen bringen.«

Oft sind es nur Textnachrichten, ­Facebook- oder Twitter-Posts, in denen die Angeklagten Gerechtigkeit und ­Demokratie forderten, die als Beweise ­herangezogen werden. Sie haben schlicht von ihrem Recht, zu denken und ihre Meinung zu äußern, Gebrauch gemacht. Dabei beziehen sich alle Urteile auf zwei Gesetze: das zur Schädigung der nationalen Souveränität und das zu ­Cyberkriminalität, also der Verbreitung von Falschinformationen. Beide Gesetze wurden Ende 2020 verabschiedet und dienen der Krimi­nalisierung von Andersdenkenden wie Lesther Alemán, der zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt wurde (wegen »Verschwörung zur Begehung von Handlungen, die der nationalen Integrität schaden«, Anm. d. Red.).

Das war eine der bislang höchsten Haftstrafen der jüngsten Prozesse. Doch vor allem der Tod von Hugo Torres am 12. Februar sorgte für internationale Schlagzeilen. Der ehe­malige General der sandinistischen Guerilla hatte den heutigen Präsidenten und damaligen Weggefährten Daniel Ortega 1974 aus dem ­Gefängnis befreit, brach aber später mit Ortega und saß seit 2021 in Haft. Hat der Tod von Hugo Torres Folgen?

Ja, die internationale Berichterstattung und die Proteste haben dazu geführt, dass drei ältere Inhaftierte in Hausarrest geschickt wurden. Arturo Cruz, einer der potentiellen Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Francisco Aguirre Sacasa, ein ehemaliger Außenminister, und José Pallais Arana, ein Jurist, wurden am 20. Februar aus der Haftanstalt in den Hausarrest entlassen. Alle haben Gesundheitsprobleme, die sich durch die Haft verschlimmert haben. Hugo Torres war seit Juni 2021 in Haft, obwohl die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte Schutzmaßnahmen für ihn verfügt hatte – die Regierung, besser dass Regime Ortegas und Murillos (Präsident Daniel ­Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo, Anm. d. Red.), hat sich darüber hinweggesetzt.

Wissen Sie mehr über die Haftbedingungen der politischen Gefangenen?

Ja, wir sind mit den Angehörigen der mehr als 170 politischen Gefangenen in Nicaragua in Kontakt und haben Zeugenaussagen von ehemaligen Gefangenen der Haftanstalt »El Nuevo Chipote«. 18 der 170 politischen Gefangenen sind über 60 Jahre alt, viele ­davon haben chronische Krankheiten. Die Häftlinge werden in sehr kleinen, beengten Zellen gehalten, ohne Tageslicht. Manche verbringen ihre Haft in Dunkelheit und isoliert, bei anderen brennt rund um die Uhr Neonlicht. Das Gros der Gefangenen, darunter 14 Frauen, hat keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, die Lebensmittelversorgung ist schlecht, viele haben 20, 30 Pfund Gewicht verloren, einige auch mehr. Das hat bei einigen Gefangenen dazu geführt, dass sie ihr Erinnerungsvermögen verloren haben, etwa im Fall von Roger Reyes. Er konnte sich seiner Ehefrau zufolge nicht erinnern, eine kleine Tochter zu haben. Ein anderes Beispiel ist Lesther Alemán, der laut seinem Anwalt im Dezember bei einem Treffen nicht gewusst habe, wo er war. Er sei geistig nicht auf der Höhe gewesen, habe Zeit- und Orientierungssinn verloren. Hugo Torres war rund sieben Monate in Isolationshaft, das hat seine Gesundheit ruiniert. Es gibt von vielen Häftlingen kein einziges Foto und es gibt Indizien für Folter.

Unter den Gefangenen befinden sich eine ganze Reihe von Journalistinnen und Journalisten wie Miguel Mora, der zu einer 13jährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er unter anderem über die Proteste gegen Ortega berichtet hatte und bereit war, bei der Präsidentschaftswahl im November 2021 gegen ihn anzutreten. Welche Bedeutung hat sein Fall?

Seine Haftstrafe soll einschüchtern – nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern die ganze Bevölkerung. Die Prozesse haben den Zweck, Nicaraguas Zivilgesellschaft zum Verstummen zu bringen. Aber natürlich geht es insbesondere gegen die nationale Presse, es sind viele Reporterinnen und ­Reporter in Haft. Miguel Mendoza zum Beispiel, ein Sportjournalist und Radioreporter mit vielen Followern in den sozialen Medien, wurde zu neun Jahren Haft verurteilt – nur weil er kritisch ­berichtet hatte und ein Influencer ist. Auch er wurde wegen Schädigung der nationalen Integrität verurteilt.

Aber auch Miguel Mora, der mit seiner Frau Verónica Chávez den Fernsehkanal 100 % Noticias leitete, war ein Influencer, der vor allem über die Proteste von 2018 ausgiebig berichtete. Er brachte Bilder der Repression in die Wohnzimmer. Es sind weitere Namen zu nennen wie Juan Holmann von La Prensa, der ältesten Tageszeitung des Landes, oder Cristina Chamorro, eine Journalistin und Leiterin der Violeta-Barrios-de-Chamorro-Stiftung (benannt nach Cristinas Mutter, die von 1990 bis 1997 Präsidentin war, Anm. d. Red.), sowie ihr Bruder Pedro Joaquín Chamorro. Sie alle sollen zum Verstummen gebracht werden.

Gibt es noch unabhängige Medien in Nicaragua oder sind sie alle abgetaucht oder wie »El Confidencial« ins Ausland gegangen?

Das Gesetz zur Cyberkriminalität hat die unabhängige Berichterstattung in Nicaragua enorm eingeschränkt. Das Gesetz sanktioniert Falschmeldungen, doch wer legt die Wahrheit fest? Das Gesetz diente dazu, La Prensa lahmzulegen, die mit 96 Jahren älteste Tageszeitung der Region, die der Familie Cha­morro gehört. Aber das Arsenal der Regierung reicht viel weiter – gerade wird der Fernsehsender Canal 12 mit Steuerüberprüfungen überzogen. Er berichtet derzeit vorsichtiger, gleiches gilt für Radio Corporación. Andere haben das Land verlassen wie Carlos Fernando Chamorro, der früher auch bei Radio Corporación tätig war. Es gibt in Nicaragua keine unabhängigen Medien mehr – es gibt nur noch ein paar überlebende.

Zudem geht der Staat gegen Bildungseinrichtungen und Nichtregierungsorganisationen vor. Wie ist da die Lage?

In diesem Monat sind rund ein Dutzend private Einrichtungen und NGOs geschlossen worden, darunter die Universidad Politécnica, die während der Proteste im Frühjahr 2018 eine Bastion des Protests war. Nun stehen die Gebäude unter staatlicher Aufsicht, ob sie konfisziert werden, ist offen.

Private Bildungseinrichtungen ­verlieren reihenweise ihren Rechts­status. Was bedeutet das?

Der nicaraguanische Staat beansprucht totale Kontrolle und das ist nicht neu. 2019 wurden elf NGOs und Bildungseinrichtungen geschlossen, 2021 waren es 63 und in diesem Jahr bisher 38; insgesamt sind es bislang 112, darunter auch ein Dutzend internationale. Der demo kratische Raum schrumpft auf ein Minimum. Auch Frauenorganisationen sind davon betroffen, zum Beispiel die Bewegung »María Elena Cuadra«, die in den Freihandelszonen arbeitet. Die Organisation unterstützt Frauen in den Weltmarktfabriken bei der Durchsetzung ihrer Arbeitsrechte und ist auf kritische Distanz zum Präsidentenpaar gegangen. Grund genug für die beiden, um gegen sie vorzugehen. Bis auf eine wurden alle Menschenrechtsorganisationen geschlossen – das ist eine klare Botschaft. Das Ausmaß an Autoritarismus ist unvorstellbar – zumindest ­hätte ich es mir vor einigen Jahren noch nicht vorstellen können.

Zugleich wendet sich Daniel Ortega Russland, Nordkorea, dem Iran und China zu. Am 21. Februar billigte er das Vorgehen Russlands in der ­Ukraine.

Der Kreis der Alliierten Ortegas ist klein und Russland zählt schon lange dazu. Vor ein paar Jahren hat Nicaragua 50 Panzer aus Russland gekauft. Details über die Kooperation sind streng geheim, Gerüchten zufolge gibt es ein Abhörzentrum im Stadtteil Las Colinas in Managua unter russischer Ägide. Der Nahverkehr in Managua wird mit russischen Bussen abgewickelt und in Nicaragua wird mit dem russischen Impfstoff Sputnik gegen Covid-19 geimpft – aber niemand weiß, wie viele Impfdosen zu welchem Preis eingekauft wurden.

Welchen Effekt haben die Sanktionen der USA und anderer Staaten gegen den Kreis um Ortega?

Die Sanktionen wirken, sie sind unbequem und erschweren den Handel. Der Kreis um Ortega wird kleiner und die Führung steht unter Druck. Was wir aber brauchen, sind Risse im Apparat um Ortega selbst – die sind bisher aber kaum sichtbar. Gerade sind neue Sanktionen gegen Rosario Murillo und Camila Ortega (eine Tochter des Präsidentenpaars, Anm. d. Red.) bekannt geworden. Wir werden sie ana­lysieren.

elche Art Sanktionen wünschen Sie sich?

Mehr Druck auf die internationalen Konten des Ortega-Clans.

 

Juan Carlos Arce

Juan Carlos Arce ist Anwalt und Menschenrechtler aus Nicaragua. Bis Dezember 2019 war der Jurist in Mata­galpa für die Menschenrechtsorganisation CENIDH tätig. Seitdem arbeitet er aus dem Exil in Costa Rica für das Kollektiv »Nicaragua Nunca+« und widmet sich von dort aus weiter der Menschenrechtsarbeit.