Katar oder Leipzig? Die Debatte über den Boykott der Fußball-WM der Männer 2022

Kick out Katar

In weniger als einem Jahr soll das Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft in Katar angepfiffen werden. Kritiker sprechen von einem unwürdigen Turnier und fordern einen Boykott. Und eine Leipziger Initiative organisiert ein Gegenturnier.

Autoritäre Regime haben Fußballweltmeisterschaften immer wieder instrumentalisiert, um von innenpolitischen Krisen abzulenken und sich vor der Weltöffentlichkeit zu inszenieren, schreibt der Historiker Wolfram Pyta in seinem Aufsatz »Die Wahrheit liegt immer auf dem Platz«. So hat das italienische Regime unter Benito Mussolini bereits zwei Jahre vor den olympischen NS-Festspielen in Berlin die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 1934 genutzt, um seine faschistische Ideologie zu propagieren. Antifaschisten veranstalteten aus Protest eine »Gegen-Weltmeisterschaft« in Paris. Umstritten war auch die Austragung der Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien. Die Geheimpolizei der Militärjunta folterte, mordete und vergewaltigte Oppositionelle direkt neben dem River-Plate-Stadion, in dem viele Spiele stattfanden.

Der Sportpublizist Ronny Blaschke bezeichnet die Forderungen, die WM in Katar zu boykottieren, als »populistisch«. Wenn man ihnen nachkomme, müsse man konsequenterweise »den gesamten globalisierten Sport boykottieren«.

2022 soll die Fußballweltmeisterschaft der Männer wieder in einem Land stattfinden, dem schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Das Gastgeberland Katar wird seit Jahren unter anderem wegen der Arbeitsbedingungen für ausländische Arbeiter kritisiert. Recherchen des britischen Guardian zufolge sollen seit dem Jahr 2010, in dem die WM an Katar vergeben wurde, bei Bauarbeiten über 6 500 Arbeitsmigranten, vorwiegend aus dem asiatischen Raum, gestorben sein. Auch die Situation von Frauen in dem islamischen Land ist Gegenstand von Kritik. Die Regierung des Emirs Scheich Tamim bin Hamad al-Thani folgt einer extrem konservativen Auslegung des Islam im Sinne von Hassan al-Banna, einem Ideologen der Muslimbrüder. Das Rechtssystem basiert in großen Teilen auf der Sharia. Vergewaltigten Frauen droht wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs Haft. Der Gleichstellungs­index des World Economic Forum führt das Emirat auf einem der ­hinteren Plätze.

Im März veröffentlichte Human Rights Watch den knapp 100seitigen Bericht »Everything I Have to Do Is Tied to a Man«, der darlegt, wie Frauen in den Bereichen Bildung, Arbeit, Reisen und Familienrecht diskriminiert werden. Frauen stehen oftmals unter männlicher Vormundschaft. Nayla, eine junge Lehrerin, schildert in dem Bericht ihren Berufseinstieg: »Ich musste den Ausweis meines Vaters besorgen und eine Einverständniserklärung, dass er nichts dagegen hat, dass ich diese Stelle annehme und dort arbeite … für das Bildungsministerium.«

Frauen werden angehalten, die Genehmigung ihres männlichen Vormunds einzuholen, um zu heiraten. Die Regeln der Sharia bestimmen den Alltag bis in die privatesten Bereiche. Die Ehefrau gelte, so der Bericht von Human Rights Watch, als »ungehorsam«, falls »sie nicht die Erlaubnis ihres Mannes einholt, bevor sie eine Arbeit aufnimmt, verreist oder das Haus verlässt, oder wenn sie sich weigert, mit ihm Sex zu haben«.

Einige der befragten Frauen gaben an, in gewaltsamen Beziehungen gefangen zu sein; andere beklagten das Verbot, an ausländischen oder gemischtgeschlechtlichen Hochschulen zu studieren. Frauen wird mit Verweis auf die islamistische Ideologie auch der selbstbestimmte Zugang zu medizinischen Leistungen wie beispielsweise gynäkologischen Untersuchungen verwehrt. Außerdem ist es ihnen verboten, Clubs zu besuchen.

Formal bewegen sich einige dieser Gesetze der systematischen Entwürdigungen in einer juristischen Grauzone. Oftmals handelt sich um eine Art Gewohnheitsrecht. Die wahhabitischen Autoritäten Katars zweifeln den Bericht von Human Rights Watch an und bestreiten gar die Existenz der fraglichen Dekrete.

Auf Nachfrage der Jungle World kritisierte der Direktor von Human Rights Watch Deutschland, Wenzel Michalski, dass sich auch nach dem Erscheinen des Berichts im März vorigen Jahres die Situation der Katarerinnen nicht verbessert habe. Das Gegenteil sei der Fall. »Bislang ist nicht bekannt«, so Michalski, »dass unser Bericht positive Auswirkungen auf die Politik Katars hat. Nachdem die Regierung mit Blick auf Demokratisierung und Minderheitenrechte öffentlichkeitswirksam Verbesserungen angekündigt hat, zeigt sich in der Realität eine Stagnation der Lage.« Offenbar wiege sich das Emirat in Sicherheit, da die Möglichkeiten des Fußballweltverbands Fifa, ein Jahr vor WM-Beginn Druck auf das Land auszuüben, äußerst begrenzt sind.

Die Fifa, die das Turnier 2010 an das Emirat vergeben hatte, behauptete unterdessen, dass sich die Menschenrechtslage in Katar bereits verbessert habe. Die deutsche Fanorganisation »Unsere Kurve« dagegen forderte die Fifa auf, umgehend einen Kriterienkatalog mit menschenrechtlichen Mindeststandards zu verabschieden. Und die gleichfalls deutsche Gruppe »Boycott Qatar« setzt sich für einen Boykott der Spiele ein.

Der Sportpublizist Ronny Blaschke bezeichnete in einem jüngst in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Beitrag die Boykottforderungen als »populistisch«. Wenn man ihnen nachkomme, müsse man konsequenterweise »den gesamten globalisierten Sport boykottieren«. Eine Vielzahl von Sportvereinen, aber auch die Landes- und Bundespolitik und große Konzerne wie VW und Deutsche Bahn machten Geschäfte mit dem arabischen Land. Ferner komme die Boykottforderung viel zu spät und sei deshalb unrealistisch. Dietrich Schulze-Marmeling, Co-Autor des Buchs »Boykottiert Katar«, entgegnet, dass die Boykottforderung dem Unbehagen an der Menschenrechtssituation Ausdruck verleihe, was dringend notwendig sei.

Wenzel Michalski von Human Rights Watch fordert, dass Fifa und DFB sowie die »Weltgemeinschaft« die Menschenrechtsverletzungen öffentlich anprangern. »Dieser Pflicht ist die Fifa bislang nicht nachgekommen«, so Michalski weiter.

Darauf wollen die Mitglieder der 2020 in Leipzig gegründeten Initiative Amateur Sports Against Profit (ASAP) nicht mehr warten. Die Gruppe Studierender aus Leipzig organisiert aus Protest gegen die Spiele in Katar unter dem Namen ASAP Global Cup ein Parallelturnier. 16 Amateurteams aus der ganzen Welt sollen zu denselben Anstoßzeiten wie bei der WM in Katar gegeneinander antreten. Fans könnten sich die Partien live oder per Livestream im Internet ansehen. Der ASAP Global Cup will ein »Turnier austragen, was nicht auf die binäre Geschlechterzuteilung zurückgreift«, also weder ein Männer- noch ein Frauenturnier sein soll. Weder Herkunft noch Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Religionszugehörigkeit sollen eine Rolle spielen.