Psychisch Schwerkranke werden in den USA nur unzureichend versorgt

Zu krank fürs System

Psychisch Schwerkranke werden in den USA, aber auch in Ländern wie Norwegen oft nicht angemessen versorgt.

Warum wurde nicht früher etwas unternommen? Warum konnte eine so gefährliche Person frei herumlaufen? Das wird nach Amokläufen wie zuletzt etwa Ende November in Oxford im US-Bundesstaat Michigan oder im Oktober in Kongsberg in Norwegen oft gefragt. Ein Blick auf die psychiatrische Gesundheitsversorgung in diesen Ländern zeigt, dass es oft gar nicht so einfach ist, Menschen mit schweren psychischen Problemen angemessen zu versorgen.

Selbst begüterten Menschen ist es in den USA mittlerweile kaum noch möglich, in akuten Fällen einen Psychiatrieplatz zu finden.

In den USA bemühte sich bereits ­Präsident Jimmy Carter (Demokratische Partei) um Verbesserungen für psychisch Kranke. Am 7.Oktober 1980 unterzeichnete er ein Gesetz mit dem ­Titel »Mental Health Systems Act« (MHSA). Auch wenn es Lücken aufwies, sollte es zumindest sicherstellen, dass die Finanzierung der im ganzen Land vorhandenen Zentren für psychische Gesundheit dauerhaft nicht allein Sache der Bundesstaaten und lokalen ­Gesundheitsbehörden sein würde, und stellte zusätzliche staatliche Mittel für Vorsorgeprogramme in Aussicht. Rund einen Monat später, am 4.November 1980, wurde der Republikaner Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt und sorgte einige Monate nach seinem Amtsantritt dafür, dass große Teile des MHSA im August 1981 widerrufen ­wurden.

Begünstigt wurde diese Entwicklung mutmaßlich dadurch, dass Reagan aus Kalifornien stammte, wo bereits in den fünfziger Jahren vor allem ältere Psychiatriepatienten in nicht auf ihre Versorgung spezialisierte Pflegeheime oder nach Hause abgeschoben wurden, um die entsprechenden Krankenhäuser und Zentren schließen zu können. Im Jahr 1967 wurde außerdem ein ­kalifornisches Gesetz verabschiedet, das Zwangseinweisungen nur noch in wenigen Extremfällen erlaubte. Dadurch wurde es unmöglich, zuvor aus den Psychiatrien zwangsweise entlassene Patienten und Patientinnen erneut aufzunehmen, selbst wenn sie erwiesenermaßen eine Gefahr für sich und andere darstellten.

Der Psychiater H. Richard Lamb, der unter anderem als Professor an der University of Southern California School of Medicine tätig war, beschrieb die Institutionen, in denen die Kranken stattdessen un­tergebracht wurden, in Schriften wie seinem 1971 erschienenen Buch »Rehabilitation in community mental health« als triste, deprimierende Orte, in denen sie isoliert lebten. Ken Keseys Roman »Einer flog übers Kuckucks­nest« (1962), der in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung in den USA spielt, und dessen gleichnamige Verfilmung (1975) stellen die Atmosphäre in solchen Institutionen beispielhaft dar. Da die Betreiber pro Patient bezahlt wurden und es keinerlei finanzielle Anreize zur Rehabilitation gab, wurden die Patienten in den meisten Fällen lediglich verwahrt. Mit anderen Worten: Diese Institutionen waren, ähnlich wie heutzutage US-Gefängnisse, eine Goldgrube. Psychiater erhielten, so das Ergebnis einer Anhörung des ­Senats im Jahr 1974, von den Betreibern 100 US-Dollar pro überwiesenem älteren Patienten.

Denjenigen, die ohne weitere Vorbereitungen auf das neue Leben nach Hause entlassen wurden, erging es nicht unbedingt besser. Viele landeten ohne Betreuung in der Obdachlosigkeit, wie der Chicagoer Psychiater Daniel Yohanna zum Beispiel 2013 in einem Artikel für das Journal of Ethics der American Medical Association schrieb. In den Achtzigern wurden dann weitere 40000 Betten in staatlichen Psychiatrien abgebaut, die vor allem schwer Erkrankten vorbehalten gewesen waren. Sie waren meist jünger, agiler und hätten eigentlich umfassende Betreuung gebraucht. Mitte der achtziger Jahre zeigten Untersuchungen in US-Großstädten wie Boston und Los Angeles, dass zwischen 30 und 50 Prozent der dortigen Obdachlosen psychisch krank waren – und dass das Problem an die Gefängnisse weitergereicht wurde. Einer 1988 veröffentlichten Erhebung von John R. Belcher (Universität Maryland) zufolge wurden von 132 aus dem Columbus State Hospital Entlassenen in den folgenden sechs Monaten 36 Prozent obdachlos und 17 Prozent verhaftet.

Viel geändert hat sich daran bis heute nicht. In seinem 2019 erschienen Dokumentarfilm »Bedlam« beleuchtet der auf medizinische Themen spezialisierte Regisseur Kenneth Paul Rosenberg die Situation in der psychiatrischen Notaufnahme eines großen Krankenhauses in Los Angeles. Die Psychologen und Psychiater auf der chronisch überfüllten Station arbeiten, wie der Film zeigt, ständig an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Immer wieder müssen sie Menschen in akuten Krisen notdürftig behandeln, ohne ihnen wirklich helfen zu können, weil es keine Möglichkeit für stationäre Therapien gibt. Die Folge: Selbst enthusiastische Altruisten geben irgendwann auf.

Genau darüber wird derzeit in Norwegen diskutiert, wo in den vergangenen Monaten mehrfach psychisch kranke Menschen, die zuvor keine ausreichende Hilfe erhalten hatten, Gewalttaten begangen haben – darunter der Attentäter von Kongsberg, der im Oktober fünf Menschen tötete. Zuvor waren die Gesundheitsbehörden sowie die Polizei immer wieder auf den Mann aufmerksam gemacht worden, der sich seinen Eltern gemäß einem Gerichtsbeschluss 2020 zeitweise nicht nähern durfte, weil er gedroht hatte, sie zu ermorden.

Nach den Tötungen in Kongsberg begann in Norwegen eine intensive Diskussion über die Versäumnisse im Gesundheitswesen des Landes. »Die norwegische Psychiatrie ist schlechter als ihr Ruf«, lautete der Titel eines Artikels in der renommierten Tageszeitung Aftenposten vor einigen Wochen. Die Autorinnen beschreiben, dass zwischen 1998 und 2017 die Zahl der stationären Betten halbiert wurde und selbst psychisch sehr schwer erkrankte Menschen nicht mehr kontinuierlich behandelt werden, sondern lediglich im Rahmen der Sprechstunden in Tageskliniken. Nicht alle sind jedoch in der Lage, solche Termine zu vereinbaren. Und die in den Kliniken arbeitenden Psychologen und Psychiater seien, so Aftenposten, meist nur »B-Klasse«. Damit war gemeint, sie gehörten in ihrem Fach oft zu den schlechteren Absolventen. Während die »A-Klasse« lieber in eigenen Praxen für Privatpatienten arbeite, behandelten die schlechteren Absolventen arme Menschen, die zudem überdurchschnittlich lange auf Hilfe warten müssten.

In den USA, so ein Fazit von »Bedlam«, arbeiten die meisten Psychologen und Psychiater ebenfalls in Privatpraxen. Und selbst begüterten Menschen ist es mittlerweile kaum noch möglich, in akuten Fällen einen Psychiatrieplatz zu finden. Im Film schildert der Politiker Creigh Deeds, ein Se­nator in Virginia, wie er im Herbst 2013 erfolglos versuchte, seinen in einer schweren bipolaren Krise befindlichen Sohn unterzubringen. Länger als drei Tage sei dies nirgendwo möglich gewesen, obwohl Deeds, wie er sagte, über ausgezeichnete Verbindungen verfügte. Im November 2013 stach sein Sohn schließlich auf ihn ein und verletzte ihn schwer, daraufhin erschoss sich der Sohn selbst.

Das Risiko, ein gewaltsames Ende zu nehmen, ist für psychisch Kranke in den USA nicht unbeträchtlich. Zu den größten Ängsten der im Film »Bedlam« interviewten Angehörigen und Freunden psychisch Schwerkranker gehört entsprechend, dass diese zum Beispiel mitten in einem schizophrenen Schub – der sich in Gewalt äußern kann – von Polizisten, die für solche Situationen nicht ausreichend ausgebildet sind, umstandslos erschossen werden.

In vielen US-Bundesstaaten dauert die Polizeiausbildung deutlich kürzer als zum Beispiel die zum Friseur. Zeit, um Techniken wie einen angemessenen gewaltfreien Umgang mit psychisch Erkrankten zu lehren, fehlt oft. Das hat auch Auswirkungen auf die Hilfe für suizidale Menschen. Ein Beispiel ist der in der Los Angeles Times im August 2019 geschilderte Fall des 63jährigen George Q. aus Graeagle, Kalifornien, der im Sommer jenes Jahres seiner rund 100 Kilometer entfernt lebenden Schwester Carol einen Abschiedstext geschickt hatte. Sie alarmierte umgehend die Polizei, in der Hoffnung, dass der offenkundig geplante Suizid ihres Bruders noch verhindert werden könnte. Die Antwort, die sie erhielt, war niederschmetternd: Die Beamten, so wurde ihr gesagt, würden auf solche Bitten nicht länger reagieren, denn das Risiko, von suizidalen Menschen angegriffen, verletzt oder getötet zu werden, sei für die Polizisten immens hoch; derartige Situationen endeten oft als sogenannter suicide by cop, also als »Selbstmord per Polizei«.

Dabei handelt es sich um seit den achtziger Jahren in der Fachliteratur beschriebene Fälle, in denen Menschen, die ihr Leben beenden wollen, bewaffnet auf das Eintreffen der Polizei warteten und dann bedrohlich auftraten, damit die Polizisten sie erschießen. Mehrheitlich seien es Männer, die auf suicide by cop aus sind, wie aus einer Ende Februar 2009 veröffentlichten Studie des Psychiaters J. Reid Meloy von der University of California und Peter I. Collins vom Zentrum für mentale Gesundheit an der University of Toronto hervorgeht. 286 Fälle waren dafür untersucht worden, zu 95 Prozent handelte es sich um Männer, im Durchschnitt waren sie 35 Jahre alt. 80 Prozent waren bewaffnet, 19 Prozent gaben vor, bewaffnet zu sein. In insgesamt 62 Prozent der Fälle hatten sie zuvor psychische Probleme gehabt, 87 Prozent äußerten kurz vor oder während des Polizeieinsatzes Suizidabsichten.

Gerade kleinere US-Polizeidienststellen verweigerten immer öfter Hilfe für Personen in lebensbedrohlichen Notlagen, schrieb die Los Angeles Times 2019, während einige große Abteilungen ihr Personal mittlerweile für solche Einsätze gezielt schulten.