Die Gesundheitsversorgung in Gefängnissen ist desolat

Krankheit als Strafe

Inhaftierte in deutschen Gefängnissen sind in der Regel physisch und psychisch deutlich kränker als die restliche Bevölkerung. Etwa 40 Prozent von ihnen sind substanz­abhängig.

Freiheitsrechte und ihre Einschränkung sind dieser Tage ein beliebtes Thema in den Redaktionen – zumindest sofern man selbst betroffen ist. Jene Menschen hingegen, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, ­erfahren selten mediale Aufmerksamkeit – von Skandalisierungen ihrer Straftaten abgesehen. Überraschend ist das nicht, gehören sie doch größtenteils zu den Ausgespuckten dieser Gesellschaft: Arme, Kranke, Junkies und Ausländer. Und dann sind sie auch noch Straftäter.

Als gegen Ende des vergangenen Jahres die Ständige Impfkommission (Stiko) ihre Empfehlung für die Priorisierung von Bevölkerungsgruppen für eine Covid-19-Impfung bekanntgab, brach die Bild-Zeitung gemeinsam mit diversen Polizeigewerkschaften sowie der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern einen Sturm der Entrüstung los, weil Inhaftierte vor Polizei­beamten geimpft werden sollten – denn Gefängnisse sind sogenannte Gemeinschaftseinrichtungen und ihre Insassen gelten als vulnerable Gruppe. Daraufhin wurden die Polizisten in die gleiche Priorisierungsgruppe einsortiert wie die Gefangenen.

Doch die Pandemie ist für die meisten Gefängnisinsassen nicht das größte Problem. »Inhaftierte sind physisch und psychisch sehr viel kränker als die Bevölkerung außerhalb der Mauern. Neben Suchterkrankungen ist die Rate an verschiedenen Infektionskrank­heiten sehr hoch, aber auch alle möglichen weiteren körperlichen Beschwerden kommen hinzu – nicht zuletzt fast regelhaft katastrophale Zähne und Störungen des Bewegungsapparats«, sagt Maren Michels vom Landesverband Hamburger Straffälligenhilfe im Gespräch mit der Jungle World.

Die Krankenversicherung von Inhaftierten ruht, während diese ihre Strafe verbüßen. Stattdessen ist der Staat unmittelbar für ihre Gesundheitsversorgung zuständig. Da der Vollzug von Freiheitsstrafen in der Bundesrepublik Ländersache ist, sind die einzelnen Justizbehörden der 16 Bundesländer verantwortlich. Deshalb unterscheidet sich die Gesundheitsversorgung zwischen den Ländern – und dort durchaus auch zwischen einzelnen Justizvollzugsanstalten (JVA) – ganz erheblich. Dabei gilt für die Gesundheitsversorgung in Gefängnissen eigentlich das Äquivalenzprinzip: Sie sollte gleichwertig zu der sein, die die gesetzlichen Krankenkassen bieten.

Besonders auffällig sind die Unterschiede im Umgang mit Suchtkranken, zu denen etwa 40 Prozent der Gefangenen zählen. Umgekehrt zeigte die sogenannte Druck-Studie (Drogen und chronische Infektionskrankheiten in Deutschland) des Robert-Koch-Instituts von 2016, dass über 80 Prozent der injizierenden Drogenkonsumenten hierzulande Hafterfahrung haben – in allen anderen untersuchten europäischen Ländern sind es (teilweise wesentlich) weniger. Zudem sind, insbesondere wegen intravenösen Drogenkonsums, Schätzungen zufolge etwa 20 Prozent der Inhaftierten mit Hepatitis C infiziert. Die Krankheit ist seit ­einigen Jahren problemlos zu behandeln, allerdings scheuen die Justizbehörden die hohen Ausgaben von etwa 30000 Euro pro Patient.

Nicht wenige stecken sich erst in der Haft durch geteilte Spritzen oder Tätowiernadeln an. Sich in den Vollzugsanstalten Drogen aller Art zu verschaffen, ist kein Problem, zum Teil werden auch Substitutionsmittel gehandelt. Obwohl viele Ärztinnen eine dauerhafte Substitution in den meisten Fällen für medizinisch ebenso notwendig halten wie Insulingaben für Diabetiker, erhalten insbesondere in süddeutschen Gefängnissen süchtige Inhaftierte nur selten die benötigten Mittel. Von den Gefängnisleitungen werde »eine Substitutionsbehandlung zum Teil als ein Geschenk gesehen. Dem ist nicht so«, sagte der Suchtforscher Heino Stöver dem Sender Deutschlandfunk Kultur. »Die Substitutionsbehandlung ist die zentrale Krankenbehandlung. Deshalb hat die Bundesärztekammer auch gesagt, dass die Substitutions­behandlung bei opioidabhängigen Patienten die Methode der Wahl ist.«

Erst 2016 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik, weil einem suchtkranken Inhaftierten die Weiterführung seiner in Freiheit begonnenen Substitution verwehrt wurde. Dieser kalte Entzug wurde sogar als Folter gewertet. Dennoch erhalten, je nach Bundesland, viele Süchtige weiterhin keine Substitutionsmittel.

Knastärzte haben nicht nur unter den Gefangenen einen schlechten Ruf – es ist schwierig, freie Stellen zu besetzen. Für weibliche Inhaftierte ­stehen nur selten Gynäkologinnen zur Verfügung. Waren viele Inhaftierte ­bereits vor Haftantritt krank, fördert das Wegsperren nicht gerade die Gesundheit. Anstatt die schon draußen für Prävention schwer erreichbare Gruppe von überwiegend der Unterschicht zugehörigen Männern in Haft umfassend zu behandeln, zu impfen, aufzuklären und ihnen Ausstiegsmöglichkeiten aus der Sucht zu bieten, sparen die Justizbehörden, wo sie können. Das ist nicht nur schlecht für die Einzelnen, die zudem häufig nach der Entlassung große Probleme haben, zurück in die gesetzlichen Krankenkassen zu kommen, sondern auch für die restliche Gesellschaft. »Meist wird nur das Nötigste behandelt, statt die Haftzeit konstruktiv zu nutzen – geschweige denn die Ursachen für einen Teil der Kriminalität, nämlich die Sucht nach illegalisierten Drogen, anzugehen«, so Michels.

Süchtige, aber auch Menschen mit anderen Störungen sind teilweise schneller wieder im Knast, als sie draußen einen Termin bei der Suchtbe­ratung bekommen können. Doch der Staat will für Verurteilte hinter Gittern möglichst wenig Geld ausgeben. Dabei darf die Strafe eigentlich nur den Freiheitsentzug umfassen, nicht die Entziehung lebenswichtiger Gesundheitsdienstleistungen.

Für eine andere Gruppe, die abhängig von der staatlichen Heilfürsorge ist und die einen Großteil ihres Lebens in Gefängnissen verbringt, sorgt der Staat wesentlich besser: Angehörige des Allgemeinen Vollzugsdiensts sind in der Regel verbeamtet, erhalten die Vorzugsbehandlung privat Versicherter – und haben dennoch eine Fehlzeitquote von zehn bis 15 Prozent. Knast macht eben krank, auch wenn man ihn täglich verlassen kann.