Sie wissen alles über den Holocaust – begriffen haben sie nichts. Zu diesem Urteil kamen sowohl Wolfgang Pohrt wie auch Eike Geisel über die universitäre Antisemitismusforschung, als sie in den achtziger Jahren aufblühte, ja: aufblähte. Je kleinteiliger die Forschungsarbeit wurde, desto unspezifischer ihr Gegenstand. Der einst kurrente Funktionalismus sah den Holocaust in einer wildgewordenen Bürokratie begründet – und Bürokratie gibt es schließlich überall –, der ihn ablösende Antirassismus führte ihn, zirkulär wie meist, auf übermäßigen Rassismus zurück – und den gibt es ja auch überall. Die Grundfrage blieb im Nebel: Warum war der Holocaust eine deutsche Tat, warum waren Juden seine Opfer?
Léon Poliakov hat diese Frage schon 1951 gestellt. Seine Studie »Bréviaire de la haine« musste wohl deshalb 70 Jahre warten, bis sie auf Deutsch – in exzellenter Übersetzung von Ahlrich Meyer – erscheinen konnte. Poliakov, Sachverständiger bei den Nürnberger Prozessen, entwickelt auf Grundlage deutschen Aktenmaterials eine Gesamtschau, die erklärt, wie und warum Deutschland die Zivilisation brach. Er zeigt, dass die Wendung weg von der Oberfläche hin zum Wesen und Inneren, Kennzeichen der unzureichenden Zivilisierung, – lange vor Hitler – archaische Antriebe förderte. Kein westliches Land kokettierte derart mit seinen barbarischen Vorfahren, keines verwechselte Enthemmung mit Reinigung. Dieser »sakrale Kult« (Poliakov) um Rasse, Blut und Volk prädestinierte die Deutschen zur Tat, die sich nur an der Gegenrasse, dem Gegenblut und dem Gegenvolk manifestieren konnte.
Von der Planung bis zum praktischen Vollzug durchzieht den Holocaust die Neigung zum katastrophischen Irrationalismus, der die totale Mitleidlosigkeit, die Lust am »fröhlichen Krieg« (Poliakov) begründet. »Wer wissen will, ›was wirklich geschah‹ und ›wie es wirklich geschah‹, kann es sich nicht leisten, diese Studie zu übersehen«, sagte Hannah Arendt. Dem ist nichts hinzufügen.
Léon Poliakov: Vom Hass zum Genozid. Aus dem Französischen von Ahlrich Meyer. Edition Tiamat, Berlin 2021, 600 Seiten, 34 Euro