Ein Gespräch mit Naïla Chikhi und Fatma Keser über die Initiative Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung

»Wir wollen nicht als Muslime zwangskollektiviert werden«

Säkulare Migrantinnen. Naïla Chikhi und Fatma Keser sprechen über Selbstbestimmung und hinterfragen, warum beim Thema Integration nur noch an Muslime gedacht wird.
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Was war der Anlass, die Initiative Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung zu gründen?

Fatma Keser: Im Zuge der Debatte über die Ausstellung »Contemporary Muslim Fashion« im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main 2019 sowie über die Konferenz »Das islamische Kopftuch. Symbol der Würde oder der Unterdrückung« des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam habe ich mit der Städtegruppe Rhein-Main der Frauenrechtsorganisation »Terre des Femmes« eine Podiumsdiskussion ­organisiert. Zu der haben wir Naïla Chikhi eingeladen, so haben wir beide uns kennengelernt. Die Veranstaltung wurde damals von Personen aus dem trotzkistischen Milieu und dem Umfeld der Gruppe »Free Palestine FFM« torpediert. Es wurde sogar gewalttätig. Da Gäste die Polizei gerufen hatten, wurde die Veranstaltung zunächst unterbrochen. Wir haben die Podiumsdiskussion dann unter Schock – zumindest kann ich das von mir sagen – weitergeführt. Anschließend saßen wir in einer Kneipe und dachten uns: Moment mal, es haben gerade Leute versucht, uns den Mund zu verbieten. Leute, die gar nicht verstehen, was wir alles durch­gemacht haben, und die uns nicht erlauben, über unsere Erfahrungen zu sprechen.

»Die Islamverbände haben es leider geschafft, dass inzwischen bei den Themen wie Integration und Rassismus nur noch an Muslime gedacht wird.« Fatma Keser

Naïla Chikhi: Wir haben uns dann zunächst mit einem offenen Brief an die Vorsitzenden der Parteien »Die Linke«, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD gewandt und die Gefahren beschrieben, die für Frauen wie uns bestehen. Wir haben die Parteien gefragt, wie sie dagegen vorgehen wollen. Darauf haben wir zunächst gar keine Antwort bekommen. Erst sehr spät und auf Druck von Parteimitgliedern, die wir persönlich kannten, kamen zwei Reaktionen. Doch Katja Kipping, die damalige Vorsitzende der Linkspartei, war eher abweisend, und Robert Habeck von den Grünen blieb sehr vage und ausweichend. Deswegen haben wir beschlossen, gewissermaßen selbst in die Politik zu gehen, um von genau diesen Leuten gehört zu werden, und haben Ende 2020 die Initiative gegründet.

Warum haben Sie sich gerade an diese Parteien gewendet?

N.C.: Wir haben den Brief damals bewusst an die eher linken Parteien adressiert, weil wir selbst Linke sind und ­Säkularität als einen linken Grundsatz begreifen. Doch die angeschriebenen Parteien sprechen kaum vom Säkularismus, sondern haben sich im Prinzip eine neue Klientel gesucht, und zwar eine religiös-orthodoxe, teilweise islamistische Klientel.

Welche Fehler macht die Politik im Allgemeinen in dieser Hinsicht?

F.K.: Die Politik konzentriert sich im Kampf gegen Rassismus und in der Arbeit für Integration derzeit vor allem auf die Islamverbände. Unter diesen sind auch Verbände, die einem faschistischen oder zumindest strikt antipluralistischen Religionsverständnis folgen. Manche ignorieren diese Inhalte einfach, andere verteidigen das Vorgehen damit, dass es ja keine anderen Ansprechpartner gäbe. Mit unserer Initiative wollen wir mit genau dieser Aus­sage brechen. Wir sind der Ansicht, dass ein großer Teil der Migrantinnen in Deutschland säkular ist, und wollen uns mit diesen Positionen an die Politik wenden.
N.C.: Derzeit werden diejenigen, die universale Frauenrechte oder Säkularismus verteidigen, kaum unterstützt. Auf politischer Ebene wendet man sich viel mehr an diejenigen, die ihre religiöse Zugehörigkeit aufwerten oder die eine identitäre Politik inklusive Opferhaltung betreiben. Das führt dazu, dass wir zumindest unter hochrangigen Politikerinnen und Politikern kaum Verbündete finden.

Gibt es weitere Erschwernisse für Ihre Arbeit?

F.K.: Die Islamverbände haben es leider geschafft, dass inzwischen bei den ­Themen wie Integration und Rassismus nur noch an Muslime gedacht wird. Wir wollen aber nicht als Muslime zwangskollektiviert werden. Uns ist es sehr wichtig, dass wir kein muslimischer oder ex-muslimischer Verbund sind. Wir versuchen, in Frage zu stellen, warum beim Wort »Migrantinnen« immer gleich an die Muslimin mit Kopftuch gedacht wird.

Außerdem wirken wir als Initiative leider oft viel kleiner, als wir es sind, weil ganz überwiegend nur wir beide öffentlich auftreten. Das liegt aber daran, dass viele unserer Mitglieder aus ­ihrem familiären Umfeld oder am Arbeitsplatz bedroht werden oder bedroht werden würden, wenn sie mit Name und Gesicht für Selbstbestimmung eintreten würden.

Was sind derzeit die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

N.C.: Wir machen viel politische Arbeit und organisieren viele Gespräche mit anderen Feministinnen, aber wir machen auch klassische Netzwerkarbeit. Unter anderem haben wir am 10. Juli, dem Tag der unverschleierten Frauen, ein internationales Podium ­organisiert. Dort haben muslimisch sozialisierte Feministinnen, die den universalistischen Ansatz vertreten, über die Folgen der Integrationspoli­tiken in westlichen Ländern auf Frauen diskutiert.

Kürzlich startete eine Online-Kampagne, an der wir uns gemeinsam mit ­Organisationen aus Belgien, Frank­reich und Kanada ­beteiligen. ­Unter #Uni­­ver­sal­WomensRights wollen wir an die Universalität der Frauenrechte erinnern und gleichzeitig zeigen, dass wir nicht nur eine vereinzelte Gruppe von Frauen und Aktivistinnen sind, sondern eine internationale Bewegung.

F.K.: Wir stehen nicht nur für Säkularität, sondern auch für Selbstbestimmung. Den säkularen Staat betrachten wir als die Voraussetzung für die Überwindung religiöser patriarchaler Ordnungen. Wir arbeiten auf zwei Ebenen: auf der politischen und auf der praktischen. Die praktische Ebene ist im Grunde recht einfach strukturiert. Wir organisieren Workshops, Fortbildungen und Ähnliches für Betroffene und Multiplikatorinnen. Ein Schwerpunkt liegt bei Mädchen und Frauen in islamischen und anderen migrantischen Communities, welche etwa durch den Jungfrauenkult und Gewalt im Namen der Ehre keinen gleichberechtigten Anteil an der Gesellschaft nehmen können.

N.C.: Hier verstricken sich viele unserer Themen, denn alle geschlechtsspezifischen Gewaltformen sind miteinander verbunden. Alles dreht sich um die Sexualität der Frau. Wir weisen aber auch immer wieder darauf hin, dass Ehren­morde nicht nur an Musliminnen verübt werden. Es gibt sie zum Beispiel auch bei den Yeziden, und auch homosexuelle Männer sind betroffen. Es ist falsch, die ganze Diskussion nur auf den Islam zu reduzieren. Es hat nicht nur mit der Religion zu tun, sondern es geht um Selbstbestimmung.

Von wem würden Sie sich neben den bereits genannten Parteien mehr Unterstützung wünschen?

F.K.: Wir wünschen uns, dass mehr säkulare Stimmen aus einer migrantischen Szene hörbar gemacht werden. Es ist ein Problem innerhalb der Linken, dass das oft nicht stattfindet oder nicht zugelassen wird. So etwas kann ganz klein beginnen. In vielen linken Gruppen, gerade in Großstädten, sind Migrantinnen im Plenum vertreten. Jemand müsste sich die Zeit nehmen, mit ihnen einen Text zu schreiben, oder man müsste sie auf ein Podium ein­laden, damit sie sich äußern können. Dass das viel zu selten passiert, macht mich manchmal wütend.

 

Naïla Chikhi und Fatma Keser

Naïla Chikhi (links) wurde 1980 in Algier (Algerien) ­geboren. Die Sprach- und Kulturwissenschaftlerin unterrichtete nach dem Studium Deutsch als Fremdsprache in Alphabetisierungs- und berufsbezogenen Integrationskursen. Sie ist unabhängige Referentin zu den Themen Inte­gration und Frauenpolitik.

Fatma Keser (rechts) wurde 1991 in der Türkei ­geboren und ist kurdischer Abstammung. Sie studierte Komparatistik und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und war Feminismus­referentin und Referentin für Politische Bildung des Allgemeinen Studieren­den­ausschusses.