Während der Regierungskrise 2019 kam es in Bolivien zu Massakern

Massaker und Hinrichtungen

Ein Expertenbericht hat festgestellt, dass es in Bolivien 2019 zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Es geht um Schüsse auf Demonstranten im Zusammenhang mit der umstrittenen Wiederwahl und dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Evo Morales. Der Bericht weist jedoch auch Lücken auf und wird politisch instrumentalisiert.

Sacaba und Senkata – diese Namen stehen in Bolivien für Massaker. In beiden Fällen schossen Polizei und Militär auf Demonstrierende, es gab jeweils elf Tote. In Sacaba ereignete sich der Vorfall am 15. November 2019; vor dem Treibstoffdepot Senkata in El Alto fielen am 19. November 2019 die Schüsse. Beide Male waren Anhängerinnen und Anhänger des am 10. November 2019 zum Rücktritt gezwungenen Präsidenten Evo Morales und seiner Partei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS, Movimiento al Socialismo) auf die Straße gegangen. Am 12. November 2019 hatte die rechtskonservative Interimspräsidentin Jeanine Áñez die Regierung übernommen (Bolivien auf der Kippe).

Mindestens 37 Personen seien in verschiedenen Teilen des Landes getötet worden, so der Bericht.

Am Dienstag voriger Woche hat die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI, Grupo Interdiscipli­nario de Expertos Independientes) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten in La Paz ihren umfassenden Bericht zu den Vorfällen vorgestellt. »Summarische Exekutionen« habe es gegeben, meinte Patricia Tappatá, ein Mitglied des GIEI, – und nicht nur an den beiden genannten Orten. Mindestens 37 Personen seien insgesamt im Land getötet worden, und »Hunderte wurden verletzt, sowohl körperlich als aus psychisch«, so ­Tappatá.

Der rund 500 Seiten starke Bericht konstatiert schwere Menschenrechtsverletzungen. Untersucht wurden Gewalttaten zwischen dem 1. September und dem 31. Dezember 2019, der Zeit der Konflikte um Morales’ verfassungswidrige erneute Kandidatur, seine umstrittene Wiederwahl am 20. Oktober 2019, seinen Rücktritt und die Einsetzung der Interimsregierung.

Der Bericht ist auch politisch brisant. Die Frage, ob es einen Putsch gegen Evo Morales gegeben habe, ist nicht nur für den MAS, der seit November 2020 mit Luis Arce wieder den Präsidenten stellt, sondern auch für die Opposition extrem wichtig. Arce kündigte Wiedergutmachungsleistungen für die Opfer an, die bisher von seiner Regierung nur partiell unterstützt worden waren, sowie eine juristische Aufarbeitung.

»Es hat gravierende Menschenrechtsverletzungen, Massaker und außergerichtliche Hinrichtungen in unserem Land während des Putsches gegeben«, so Arce. Für den Präsidenten und seine Partei ist unstrittig, dass es sich um einen Putsch gehandelt hat; Morales war zurückgetreten, weil ihm das Militär die Gefolgschaft verweigert hatte. Unstrittig ist aber auch, dass Morales bei den Wahlen am 20. Oktober 2019 kandidiert hatte, obwohl ihm die Verfassung und ein Referendum eine vierte Amtszeit untersagt hatten.

Darüber werde in Bolivien seit rund zwei Jahren debattiert, so der Soziologe und Menschenrechtler Marco A. Gandarillas, der als Analyst des Bank Information Center tätig ist, einer NGO mit Sitz in Washington, D.C. Der Bericht stärkt vor allem die Position derjenigen, die von einem rechten Putsch ausgehen. »Der Bericht basiert auf der engen Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Justizministerium. Doch Korruption und politische Motive bei der Besetzung der Posten sind gängig, die Glaubwürdigkeit der Justiz ist untergraben. Das ist ein Manko«, so Gandarillas. Nicht alle Opfer seien zu Wort gekommen, gezielte Morde, für die auch Täter aus dem Umfeld des MAS verantwortlich sein könnten, seien immer noch nicht untersucht worden, ebenso wenig mehrere Brandanschläge.

Das sind einige der Gründe, weshalb unterlegene Präsidentschaftskandidat des bürgerlichen Lagers, Carlos Mesa, strukturelle Reformen im Justizministerium fordert. Doch der Präsident hat sich dazu noch nicht geäußert. Seine Vorgängerin, die Interimspräsidentin Jeanine Áñez, sitzt seit Monaten in Haft. Zwar sei sie formal für etliche Gewalttaten zumindest mitverantwortlich, aber es fehle eine konkrete Anklageschrift, um eine rund halbjährige Untersuchungshaft zu rechtfertigen, argumentiert Gandarillas.

Unterdessen stockt die Covid-19-­Impfkampagne der Regierung und Experten warnen vor einer vierten Welle der Pandemie, auf die das Gesundheitssystem nicht vorbereitet sei. Sauerstoff wird ähnlich wie in Peru immer wieder knapp und die Infektionszahlen steigen erneut. Diese beunruhigende Entwicklung, aber auch das Fehlen von Sozialprogrammen für Arme haben die Popularität von Präsident Arce zuletzt sinken lassen. Auch die von ihm im Wahlkampf angekündigten Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft zeitigen kaum Erfolge. Evo Morales hat, anders als von vielen Beobachtern erwartet worden war, nach seiner Rückkehr nach Bolivien zwar wieder den Vorsitz des MAS übernommen, aber nicht die Regierungsmacht.