Rezension von Philipp Sarasins Buch »1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart«

Bhagwan, Apple II & Differenz

Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin sieht ab Ende der siebziger Jahre einen gesellschaftlichen Wandel eintreten, der nicht dem Modell der Umwälzung, sondern dem der Erosion folgt. Seine fulminante Studie »1977« wirft allerdings eine wichtige Frage auf, die unbeantwortet bleibt.
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Die Frage, wie man die Epoche, in der wir leben, überhaupt bezeichnen soll, treibt Soziologen, Historiker und Philosophen seit Jahrzehnten um: Postmoderne, neue Unübersichtlichkeit, Risikogesellschaft, reflexive Moderne, konsequente Moderne oder doch Zweite Moderne? Unabhängig davon, wer nun welche Argumente für welche Kennzeichnung vorbringt, offenbart die begriffliche Unsicherheit doch eine gemeinsame Gewissheit: nämlich die, nicht mehr in der Gesellschaft der industriellen Moderne zu leben, die Gewissheit, dass grundlegende Annahmen über jene »Hochmoderne« – systemische Organisation gesellschaftlicher Prozesse sowie Angleichung von Lebensverhältnissen und Rechtsstatus auf Basis entfalteter Produktivkräfte – zur Gegenwart immer schlechter passen oder gar bereits obsolet sind.

Das Jahr 1977, das Sarasins Buch den Titel gibt, ist gut gewählt, um den ersten »Rissen und Bruchstellen« der industriellen Moderne nachzuspüren. Es war das Jahr, in dem der Computer Apple II lanciert wurde, das wohl erste Gerät seiner Art, das den Unterschied zwischen Arbeitsmittel und Unterhaltungsapparatur aufhob.

Eine wohl zumindest entfernt vergleichbare Ungewissheit herrschte in der westlichen Welt zuletzt am Übergang von der (aus heutiger Sicht so genannten) Frühen Neuzeit in eben jene Moderne, also in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1850: eine Periode, die mehr Umwälzung in kurzer Zeit und rascher Ausbreitung brachte als jede andere der vorherigen Menschheitsgeschichte; eine Periode, in der wie nie zuvor mentaler und technischer Wandel in eins fielen, sich nicht nur Institutionen tiefgreifend veränderten, sondern letztlich die Wahrnehmung an sich, weil Raum und Zeit ihre bislang vertraute Statik verloren.

Im Unterschied zu dem sich seit Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts abzeichnenden Epochenwechsel, über dessen Bezeichnung wie Richtung so viel Unklarheit herrscht, zeigten sich die Konturen der industriellen Moderne rasch und deutlich. Klassische Konzepte wie das der Demokratie und auch komplett neuartige Begriffe wie »Klassengesellschaft« vermochten es, gesellschaftliche Erfahrung in triftiger Form aufzunehmen; die Potentiale grundlegender technischer Veränderungen wie der Dampfkraft und grundstürzender politischer Revolutionen erschlossen sich nicht erst zukünftigen Historikern, sondern bereits zeitgenössischen Analytikern.

Die Postmoderne, um die griffigste der für die Gegenwart zur Debatte stehenden Epochenbezeichnungen zu benutzen, ist da grundsätzlich anders geartet: Sie folgt nicht dem Modell der Umwälzung, sondern dem der Erosion; das Voranschreiten der Zeit entkoppelt sich vom Fortschritt, überwunden oder todgeweiht Geglaubtes tritt wieder hervor, in dem Maße wie die Moderne und ihre Organisationsformen zerlegt und neu zusammengesetzt werden; technischer Fortschritt koexistiert nun unbeirrt mit dem Archaischem, ja, wiederbelebt es geradezu. Als »die Erosion des Allgemeinen« charakterisiert der Schweizer Historiker Philipp Sarasin die – je nach Perspektive – Post- oder Spätmoderne.

Diese Erosion läuteten ein politisches und ein technisches Ereignis ein, die beide von einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zeugen, die von nun an dominieren sollte: zum einen die iranische Revolution 1979, die das Sittengesetz einer peripheren Eroberungsökonomie der Spätantike als Grundlage eines Staates etablierte, der sich da­ran machte, zur Atommacht aufzusteigen; zum anderen das Internet, dessen spätere globale Verbreitung ihre Grundlage 1977 durch die erfolgreiche Erprobung des TCP (Transmission Control Protocol) erhielt – an sich eine Technologie der Welterschließung, die jedoch paradoxerweise die Wahrnehmungsverengung ihrer Nutzer befördert.

»Der Ausschnitt der Welt, den man auf diese Weise zu Gesicht bekommt, ist nicht nur eng, sondern auch und vor allem ›singularisiert‹«, konstatiert Sarasin in seiner »kurzen Geschichte der Gegenwart« und fährt fort: Dies sei »ganz offenkundig eine der Erbschaften von 1977: die Kom­bination von ›Identität›, ›freier Konsumwahl‹ und der Technologie des Internets (…) wirkt korrosiv. Es löst zwar Freiheitsversprechen der Moderne ein, (…) schafft aber parallele, multiple Welten bei rapide blasser werdenden Gemeinsamkeiten« mit allen bekannten Folgen von gig economy über lean production und globale Lieferketten bis zur hemmungslosen Stimulation persönlicher Obsessionen, in der die Algorithmen wie ein durch Browser-Verlauf maßgeschneidertes Über-Es wirken.

Das Jahr 1977, das Sarasins Buch den Titel gibt, ist sicherlich gut gewählt, um den ersten »Rissen und Bruchstellen« der industriellen ­Moderne, wie sie bis dato erschien, nachzuspüren. Es war das Jahr, in dem der Computer Apple II lanciert wurde, das wohl erste Gerät seiner Art, das den Unterschied zwischen Arbeitsmittel und Unterhaltungsapparatur in sich aufhob; es war das Jahr, in dem die ausgreifende Expressivität in der populären Musik der strengen Reduktion wich, die Disco, Punk und New Wave gemein ist; es war das Jahr des Poona-Booms, in dem sich scharenweise Zivilisationsmüde der Bhagwan-Sekte anschlossen, das Jahr, in dem »New Age« und Esoterik endgültig gesellschaftsfähig wurden, das Jahr, in dem die RAF sich vollends ins ideologische Nirwana verabschiedete, das Jahr, in dem Labour-Premierminister James Callaghan erstmals die Abwicklung der britischen Autoindustrie androhte, sollte die Streikerei nicht aufhören, und schließlich auch das Jahr, als in den USA der Begriff identity politics geprägt wurde, in Deutschland die Zeitschrift Emma neu auf den Markt kam und Michel Foucault und die radikale französische Intelligenzija insgesamt den Liberalismus für sich entdeckten.

Eingeleitet von Nekrologen auf Künstler, Kämpfer und Philosophen, die 1977 gestorben sind und die exemplarisch »ein modernes Leben« gelebt hatten, zeichnet Sarasin in fünf Fallstudien »die Schwächung des modernen Allgemeinen und den Aufstieg der ›postmodernen‹ beziehungsweise ›spätmodernen‹ Singularitäten« nach: an Ernst Bloch den »Herbst der Revolution«, an der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer den Beginn der »Politik der Differenz«, an Anaïs Nin das Aufkommen von »Esoterik und Identitätspolitik«, am französischen Lyriker und Drehbuchautor des »Poetischen Realismus«, Jacques Prévert, die Entwicklung und Wirkung von »Kulturmaschinen« der Simulation und schließlich an Ludwig Erhard, wie der Wettbewerb Genetik und Physiognomie zu durchdringen beginnt, quasi den Prozess der Fleischwerdung des Marktes.

Dem an sich disparaten, zerrissenen, paradoxen und erosiven Charakter der Epoche, die der sogenannten Hochmoderne folgt, entspricht auch der Charakter der fünf Fallstudien im Buch: Sie lassen sich nicht säuberlich voneinander trennen, greifen ineinander über und verweisen aufeinander, sperren sich einer Kurzcharakterisierung so, wie sich die 1977 beginnende Gegenwart insgesamt eben auch einer eindeutigen Bezeichnung entzieht.

Und doch gibt es ein Hauptmotiv, das die Analysen durchzieht und verknüpft; dieses Motiv hängt eng mit der konstatierten Tendenz zur Singularisierung zusammen, ein Begriff, den Sarasin aus gutem Grund dem gängigen der »Individualisierung« vorzieht – zehrt dieser doch von einer längst vergangenen relativen Autonomie des Einzelnen. Immer wieder kommt Sarasin auf den grassierenden Aberglauben inmitten der technologisierten Gesellschaft zu sprechen, der der Umorientierung des Denkens vom Befinden des Objekts zum Empfinden des Subjekts geschuldet ist: Es handelt sich dabei um einen monadisierten Aberglauben aus zweiter Hand, den der von Sarasin des Öfteren zitierte Religionssoziologe Roy Wallis als »epistemologischen Individualismus« bezeichnet.

Auf der Suche nach den je eigenen Potentialen, im Drang zur Selbstverwirklichung, droht die Wirklichkeit verlorenzugehen: Sie erscheint nun lediglich als fluider Ausdruck des vereinzelten Geistes, der in dieser Vereinzelung, durch den Verlust des Bezugs auf anderes und andere außer seiner selbst und jenen, die ihm gleichen, jedoch gerade nicht seine Möglichkeiten entfaltet, sondern sich in seinen Abgründen verliert: »Die postmoderne Erfahrung basiert auf der je individuellen ›Gewissheit‹, dass der Regentanz der Hopi wirklich funktioniert, dass im Inneren des eigenen Bewusstseins sich wirklich der Kosmos spiegele (…). Es erscheint dann legitim, die Darwin’sche Evolutionstheorie aus der Perspektive der biblischen Schöpfungsgeschichte oder der Hymnen der Rigveda zu ›kritisieren‹«, resümiert Sarasin.

Zwar ist es Sarasins Sache nicht, diese Entwicklung mit wirtschaftlichen Veränderungen zu verknüpfen, die sich seit den späten Siebzigern vollzogen haben. Doch gerade die Klarheit seiner Sprache und seines Blicks drängt den Zusammenhang nachgerade auf: den vereinzelten Aberglauben als Ausdruck und Konsequenz der ökonomisch-praktischen Renaissance des Liberalismus in den siebziger Jahren zu verstehen, in der sich das Verhältnis der beiden schon immer widerstreitenden Grundmodi des Kapitalismus, hie Produktion und allgemeine Kooperation, da Markt und singuläre Konkurrenz, deutlich zugunsten der Letzteren verschoben hat.

Am Ende seines Buchs scheint Sarasin jedoch vor dem zurückzuschrecken, wohin ihn die Stringenz der Analyse zuvor doch getrieben hatte: die Post- beziehungsweise Spätmoderne als Ver- und Zerfallsepoche zu verstehen. In seiner Schlussbetrachtung stellt er die rhetorische Frage: »Doch ist das nicht zu pessimistisch gedacht?« – um dann die eigenen Befunde zumindest teilweise zu revidieren: »Das Erbe von 1977 ist von tie­fer Ambivalenz geprägt. Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion … (kann) gar nicht hoch genug geschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch.«

Bei all dem aber, was Sarasin auf über 400 Seiten ausbreitet, liegt eine sehr grundsätzliche Frage nahe: War und ist dieses Junktim von Freiheitsgewinn und Vernunftverlust – Niklas Luhmann sprach in diesem Zusammenhang boshaft über die »Emanzipation von der Vernunft« – wirklich zwangsläufig und notwendig? Oder zeigen die Paradoxa und Aporien der Post- beziehungsweise Spätmoderne nicht vielmehr ex negativo, dass Menschen sich eben nur auf Basis kollektiver Kooperation individuell entfalten können, dass Menschen nur im Verein frei sein können, wie ein gewisser Karl Marx zu Beginn der Moderne festgehalten hatte?

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp, Berlin 2021, 502 Seiten, 32 Euro