Uwe Lindemanns ­Studie zur Metapher des Kraken

Tödliche Umarmung

Der Literaturwissenschaftler Uwe Lindemann untersucht, wie der Krake zum Symboltier der Verschwörungsgläubigen wurde.

Kraken, wohin man schaut: Die Piratenpartei demonstrierte mit dem Motiv gegen das internationale Produktpiraterieabkommen ACTA, der Zeichner Burkhard Mohr karikierte den jüdischen Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in der Süddeutschen Zeitung als Krake mit Hakennase, die Bewegung Occupy Wall Street ließ sich von der bekannten US-amerikanischen Künstlerin Molly Crabapple ein Logo gestalten, das den Kraken mit dem für Uncle Sam typischen Zylinder zeigt. Fast immer sind solche Darstellungen antisemitisch konnotiert. Auch bei vielen anderen globalisierungskritischen Protesten taucht das Meerestier als vielarmiger Lenker der Weltgeschicke auf.

Die Entdeckung des Kraken in den Weltmeeren und die Anfänge der Globalisierung fallen also nicht nur in dieselbe Zeit, sondern haben auch das Meer als Schauplatz gemeinsam.

Warum sich der Krake zu einer der langlebigsten politischen Metaphern der Moderne entwickelt hat, untersucht der Literaturwissenschaftler Uwe Lindemann in seinem kürzlich erschienenen Essay »Der Krake«. Man erfährt, warum der Krake zum Wappentier der Globalisierungskritik wurde und welche berüchtigten Vorbilder die Karikaturen haben. Außerdem wird ausführlich erörtert, ob es nun die Krake oder der Krake heißt. Der Krake gehört wie der Kalmar, der Sepia oder der Nautilus zur Spezies der Kopffüßer. Die Bezeichnung Krake ist umgangssprachlich aber die gebräuchlichste für die Weichtiere mit den Fangarmen.

Politische Metaphern machen Sachverhalte plastisch, haben Suggestivkraft und können den Gegner der Lächerlichkeit preisgeben. Menschen in kritischer oder diffamierender Absicht als Tiere zu karikieren, beruht auf einer langen publizistischen und literarischen Tradition. Überhaupt sind Tiermetaphern in politischen Auseinandersetzungen beliebt. Es gibt »Maulwürfe«, »lahme Enten«, »Falken« und »Tauben«, den Typus des political animal und eben auch den Kraken, der vor allem als Bildmetapher Karriere gemacht hat. So wurden schon Bismarck, Stalin, Hitler, Churchill, Merkel, Trump, aber auch US-Eisenbahngesellschaften, Telefonkonzerne oder eben »die« Juden beziehungsweise Personen jüdischer Abstammung wie George Soros als Kraken dargestellt.

Seit gut 100 Jahren dient das Tier als Metapher für ein böses Netzwerk und als Sinnbild der sogenannten Globalisierung, also des weltumspannenden Kapitalismus. Interessant ist, dass das Meerestier im Zuge der Globalisierung zu einer Art Supermetapher wurde. Mit dem Verlegen der Tiefseekabel im 19. Jahrhundert rückten nicht nur die Kontinente zusammen, auch wurde in dieser Zeit die Tiefsee erforscht. Dabei entdeckte man den sonderbaren Meeresbewohner.

Riesenkraken tauchten bereits in den Mythologien aller Zeiten und Kulturen auf und auch in den zumeist als Seemannsgarn abgetanen Erzählungen der Schiffsbesatzungen. 1861 harpunierte die Besatzung einer französischen Korvette vor Teneriffa dann zum ersten Mal einen Riesenkopffüßer. Ließen vordem schon Sichtungen auf die Existenz der Tiere schließen, so hatte man nun den lebenden Beweis. »Sein Aussehen ist schreckenerregend«, hieß es in der entsprechenden Beschreibung der Besatzung, »seine Farbe ziegelrot; diese Skizze eines Lebewesens, dieser gigantische und schleimige Embryo hat eine ebenso abstoßende wie furchtbare Gestalt.«

Das fremdartige Tier mit seinen meterlangen Armen war keine Legende, sondern ein Bewohner der Tiefen jener Meere, die zu Transportwegen des Welthandels geworden waren. Die Entdeckung des Kraken in den Welt­meeren und die Anfänge der Globalisierung fallen also nicht nur in dieselbe Zeit, sondern haben auch das Meer als Schauplatz gemeinsam. Bald diente das Tier als Metapher für den weltumspannenden Handel und illustrierte das Wirtschaftsgeschehen, lange bevor dieses auf den Begriff der Globalisierung gebracht wurde.

Selbst die Wissenschaft betrachtete das Tier mit einer gewissen Abscheu. Der große Kopf mit seinen markanten Augen sowie seine Intelligenz lassen es einerseits menschenähnlich erscheinen, anderseits bewegt es sich rückwärts, hat einen Schnabel sowie acht Arme mit Saugknöpfen. Aus der Physiognomie schlossen Naturforscher auf ein niederträchtiges Verhalten. Fälschlicherweise wurde zunächst angenommen, dass Kraken ihre Beute aussaugen würden. Das Bild des Parasiten, der seinen Wirt auszehrt, wurde auf soziale und gesellschaftliche Bereiche übertragen und der Krake zu einem solchen ­Parasiten stilisiert.

Der gallertartigen Unförmigkeit schrieb man bedrohliche Eigenschaften zu. Auch Jules Verne griff die ­Metapher auf. Der Nahkampf der von Kapitän Nemo angeführten Seeleute mit dem Riesenkraken im Roman »20.000 Meilen unter dem Meer« (1869/70) gehört wohl zu den einprägsamsten Szenen der Literatur, nicht zuletzt dank der meisterhaften Illustrationen. Verne imaginiert das Tier als weibliches Wesen, dessen Umarmung tödlich ist.
Um 1873 illustrieren Krakendarstellungen die Kritik an der Monopolisierung der US-amerikanischen Eisenbahn. Der Krake zieht Columbia, die personifizierten USA, in eine dunkle Höhle. Drei Jahre später erscheint ein Achtarm erstmals mit einem menschlichen Kopf auf einer zeitgenössischen Karikatur. Sie zeigt Zar Alexander II., der nach Europa greift. Der Krake etablierte sich rasch als politische Metapher.

Der parasitäre Aspekt machte das Tier für eine rassistische und antisemitische Propaganda so populär. In den Deutschvölkischen Monatsheften erschien 1921 die Zeichnung eines Glatzkopfs mit Hakennase, dessen Tentakel eine halbnackte blonde Frau umklammern. In der antisemitischen Hetzschrift »Die Protokolle der Weisen von Zion« ist von einer »Zange« die Rede, mit der jüdische Geheimgesellschaften alle Weltländer ausquetschen würden. Der Krake wird in der Publizistik der zwanziger und dreißiger Jahre zu einer der populärsten antisemitischen Propagandafiguren. Eine berüchtigte Nazikarikatur von Josef Plank zeigt den damaligen britischen Premierminister Winston Churchill als einen Kraken, der auf einer Weltkugel sitzt. Über seinem Kopf schwebt ein Davidstern.

Es sei bemerkenswert, schreibt Lindemann mit Blick auf die andauernde Popularität der Metapher, »wie vergesslich selbst kritische Medien wie die Süddeutsche Zeitung hinsichtlich der propagandistischen Vereinnahmung des Kraken durch die Nazis« sind. Er erklärt die »Vergesslichkeit« mit der besonderen symbolischen »Strahlkraft« des Kraken, die auf eine »tiefe Verankerung im kollektiven Gedächtnis« hindeute. Leider kommt in der insgesamt lesenswerten Studie eine politische Kritik globalisierungskritischer Diskurse zu kurz. Ansonsten würde deutlich, dass diese Bewegungen sich das Krakenbild nicht trotz, sondern wegen der antisemitischen Stereotype angeeignet haben.

Uwe Lindemann: Der Krake. Geschichte und Gegenwart einer politischen Leitmetapher. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2021, 149 Seiten, 24,90 Euro