Die Arbeits- und Sozialpolitik in den Parteiprogrammen zur Bundestagswahl

Arbeit ist das ganze Leben

Außer der CDU/CSU stellen die Parteien mit ihren arbeits- und sozialpolitischen Forderungen in den Programmen zur Bundestagswahl in Aussicht, vom bisherigen Hartz-IV-Armutsregime abrücken zu wollen. Einig sind sich alle Parteien darin, dass niemand ohne Arbeit glücklich sein darf.

Gut 16 Jahre nach seiner Einführung ist das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich »Hartz IV« genannt, die staatliche Leistung mit dem schlechtesten Image hierzulande. Deshalb stellen nahezu alle Parteien in ihren Programmen zur Bundestagswahl im September eine Änderung in Aussicht, zumindest sprachlich: Ob »Aktivierende Grundsicherung« (AfD) oder »Garantiesicherung« (Bündnis 90/Die Grünen) – die Parteien konkurrieren um das Unwort des Jahres.

Bloß die Unionsparteien wollen an Hartz IV genauso festhalten wie an der »Vielfalt des deutschen Arbeitsmarktes«, womit die diversen Ausbeutungsmechanismen des deutschen Arbeitsrechts gemeint sind: Werkverträge seien als »elementarer Bestandteil unseres funktionierenden Arbeitsmarkts« unverzichtbar, Zeitarbeit sei ein »Flexi­bilisierungsmoment« und eine »wichtige Brücke zur Arbeit« für Gering­qualifizierte und Langzeitarbeitslose. Die sozialversicherungsbefreiten ­Minijobs will die Union nicht nur beibehalten, sondern ausweiten: Der ma­ximale Monatslohn soll von 450 Euro auf 550 Euro erhöht werden; legt man den derzeitigen Mindestlohn von 9,60 Euro pro Stunde zugrunde, entspricht dies einer monatlichen Arbeitszeitsteigerung von über 22 Prozent – in prekärer Beschäftigung.

2005 führte eine Koalition von SPD und Grünen das Arbeitslosengeld II ein. Beide Parteien wollen das dieser Tage aber nicht mehr wahrhaben.

Passenderweise will die Union auch »das Arbeitszeitgesetz reformieren und die Spielräume des EU-Rechts nutzen. Anstelle der täglichen soll eine wöchentliche Höchstarbeitszeit treten.« Und wenn man schon den Arbeitsschutz aushöhlt, kann man auch noch die sogenannte Arbeitnehmerüberlassung für alle Angestellten einführen beziehungsweise »Personalpartnerschaften erleichtern«, wie die Union es nennt: Zwei Unternehmen sollen sich gegenseitig Personal zuschieben dürfen, wenn sie dafür eine Kooperationsvereinbarung aufsetzen.

Ohnehin ist Deregulierung für den Unionskanzlerkandidaten Armin ­Laschet (CDU) das Wahlkampfthema – außer beim Hartz-IV-Armutsregime. Das soll explizit weiterhin Sanktionen enthalten, die es erlauben, den Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 446 Euro für Alleinstehende pro Monat zu ­kürzen. Dabei hatte das Bun­desverfassungsgericht bereits 2010 diesen Regelsatz zum grundrechtlich gewährten Existenzminimum und 2019 zumindest die härteren Sanktionen für verfassungswidrig ­erklärt.

Laschets Wunschkoalitionspartner FDP will hingegen auch Hartz IV deregulieren und nennt das Ganze dann »Liberales Bürgergeld«. Das soll alle steuerfinanzierten Sozialleistungen zusammenfassen, neben dem Arbeitslosengeld II soll es beispielsweise auch Altersgrundsicherung und Wohngeld ersetzen. So könnte die Sozialverwaltung gleich mit entschlackt werden. Über die geplante Höhe des »Liberalen Bürgergelds« schweigt die FDP sich freilich aus. Aber die geplanten Steuersenkungen für Unternehmen in Höhe von 60 Milliarden Euro pro Jahr wird die FDP schon gegenfinanzieren wollen.

Von der AfD kommen neben ihrem wenig einfallsreichen Umbenennungsvorschlag nur gewohnt rassistische Forderungen: Nichtdeutsche sollen nur ein Jahr lang Grundsicherung erhalten und das Geld dürfe nicht mehr auf »ausländische Konten« fließen.

Die Regierungskoalition von SPD und Grünen hatte das Arbeitslosengeld II zum 1. Januar 2005 eingeführt. Beide Parteien wollen das dieser Tage nicht mehr wahrhaben und hoffen, dass das Erinnerungsvermögen der Wählerinnen und Wähler begrenzt ist und niemand gehässig an die Entstehungs­geschichte erinnert, wenn sie nach der Bundestagswahl »Hartz IV überwinden« wollen, wie es bei den Grünen heißt.

Das neue grüne Projekt namens »Garantiesicherung« soll »ohne Sanktionen das soziokulturelle Existenzminimum« gewähren – »einfach und auf Augenhöhe«. Weil die Grünen mit ihrem ganzen Wahlprogramm »ein klares Ziel für dieses Jahrzehnt vor Augen« haben, nämlich »klimagerechten Wohlstand«, erhöhen sie den Regelsatz ganz dekadent um 50 Euro, was nicht mal für den regelmäßigen Kauf von Bioprodukten bei Aldi reicht. Und auch dafür sollen noch alle schuften, pardon, wollen die Grünen »allen Menschen ermöglichen, am Arbeitsleben teilzuhaben«. Oder zumindest Arbeit zu simulieren: Langzeitarbeitslose, von denen ein Großteil aufgrund multipler physischer oder psychischer Probleme überhaupt nicht arbeitsfähig ist, sollen auf einem »dauerhaften sozialen Arbeitsmarkt, der sinnstiftende Tätigkeiten vermittelt«, beschäftigt werden.

Die SPD bietet noch etwas weniger. Ihr »Bürgergeld« unterscheidet sich nur durch den Namen von Hartz IV, wenngleich sie selbst eine andere Meinung vertritt: »Unser Bürgergeld steht für ein neues Verständnis eines haltgebenden und bürgernahen Sozialstaats.« Was unter dem Motto »Fördern und Fordern« bekannt wurde, klingt nun so: Man setze »konsequent auf Hilfe und Ermutigung«, beharre aber auch weiterhin auf »Mitwirkungspflichten«, wolle jedoch »sinnwidrige und unwürdige Sanktionen« abschaffen. Welche Sanktionen aus Sicht der SPD »sinnwidrig und unwürdig« sind, steht nicht im Programm. Allerdings verwendete Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) stets diese Formulierung, wenn er über die bereits vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Sanktionen sprach.

Auch die SPD will den »sozialen Arbeitsmarkt« nutzen, um Langzeit­arbeitslose von der Couch zu holen. Weil sie sich nicht damit abfinden will, »dass Menschen ohne Arbeit bleiben«, sollen Betriebe, die Langzeitarbeitslose einstellen, Lohnkostenzuschüsse erhalten. Bereits in der noch laufenden ­Legislaturperiode führte die SPD zusammen mit der Union dieses Konzept als »Teilhabechancengesetz« ein. Unternehmen, die Langzeitarbeitslose für 24 Monate zu Mindestlohnkonditionen befristet einstellen, erhalten sämtliche Lohnkosten vom Jobcenter zurück. Eine Verpflichtung zur anschließenden Weiterbeschäftigung gibt es nicht und auch keine Beschränkung der Tätig­keiten. Für Betroffene schlägt sich das »Recht auf Arbeit« der SPD nieder in Teilhabe am Arbeitszwang oder Sanktionierung, wenn sie nicht bei Zeitarbeitsfirmen oder dem Reifenhersteller Continental in der Produktion schuften wollen.

Die mit Hartz IV verbundenen »Eingliederungsvereinbarungen werden durch eine gemeinsame und auf Augenhöhe erarbeitete Teilhabevereinbarung ersetzt«, mitmenschelt die SPD weiter, und man kann ganz sicher sein, dass auch hier der Unterschied nur im Namen liegt. »Auf Augenhöhe« mit diesen Schönrednern will die Bürgerin nicht sein und kann es auch gar nicht. Der Staat hat das Gewaltmonopol inne und den Schutzauftrag erhalten, doch davon wollen weder SPD noch Grüne reden.

Wenig überraschend bleibt auch die Linkspartei auf die Arbeit fixiert: »Wir wollen das Hartz-IV-System abschaffen und es ersetzen durch gute Arbeit«, obwohl das Ziel der Partei »eine Gesellschaft des guten Lebens für alle« sei. »Gute Arbeit« bedeutet bei den Genossinnen und Genossen: ein Mindestlohn von 13 Euro pro Stunde, wo SPD und Grüne nur zwölf Euro bieten, eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und alle sollen mindestens 1 200 Euro im Monat zum Leben ­haben. Der Niedriglohnsektor soll abgeschafft, die Leiharbeit verboten, die Managervergütung gedeckelt und das Renteneintrittsalter wieder auf 65 gesenkt werden. Außerdem sollen Minijobs sozialversicherungspflichtig sein. Und damit auch wirklich alle schaffen gehen, fordert die Linkspartei »ein Recht auf Erwerbsarbeit mit einem einklagbaren individuellen Rechtsanspruch«.

Nur ein Recht, auch ohne Lohnarbeit glücklich und zufrieden leben zu können, bietet »Die Linke« nicht, denn sie will den »ökologischen und demokratischen Sozialismus«, der ohne Arbeits­fetisch undenkbar ist. Passenderweise ist der parteiinterne Streit über die Forderung eines auskömmlichen bedingungslosen Grundeinkommens immer noch nicht beigelegt. Im kommenden Jahr, also erst nach der Bundestagswahl, soll eine Mitgliederbefragung über die Aufnahme ins künftige Wahlprogramm entscheiden, erklärt das aktuelle Wahlprogramm.

Bei allen Unterschieden zwischen den arbeits- und sozialpolitischen Forderungen der Parteien scheinen zwei Änderungen sicher: Nach der Bundestagswahl dürften alle Selbständigen ins Sozialversicherungssystem integriert werden, denn diese Forderung findet sich in ausnahmslos allen Programmen. Und die Rentenversicherung dürfte um eine kapitalmarktorientierte Komponente erweitert werden. Dieses sogenannte schwedische Modell fordern alle Parteien, die aussichtsreiche Chancen auf eine Regierungsbeteiligung haben, also die Unionsparteien, die Grünen, die SPD und die FDP. Nur »Die Linke« lehnt diese Risikorentenversicherung ab. Dabei ist das letzte globale Spekulationsdesaster, das die Unsicherheit von Kapitalanlagen als Altersvorsorge zeigte, noch nicht einmal so lange her wie die Einführung von Hartz IV.