Eine Mauer namens Title 42
»›Nehmt eure Rucksäcke und Marsch zurück‹, sagte uns der Beamte der U.S. Border Patrol.« Ori, eine schlanke 22jährige Venezolanerin mit braunem Pferdeschwanz, zuckt die Schultern. Sie kann immer noch nicht glauben, dass sie nicht einmal die Möglichkeit erhielten, Asyl zu beantragen. Ihre Namen habe der Beamte noch fahrig und fehlerhaft aus den Pässen abgeschrieben. Dann habe er Ori, ihren Cousin und ihre Cousine mürrisch angewiesen, durch die auf dem Boden liegenden Mauerstücke wieder zurückzuklettern. Zurück nach Mexiko.
»Wir haben so viele Länder durchquert«, seufzt Oris Cousin Michael. Als Joe Biden die Präsidentschaft in den USA übernahm, hatten sie sich eingedenk des Wahlkampfversprechens, Trumps Abschottungspolitik zu beenden, gesagt: »Das ist unsere Chance.« Ori, Gaby und Michael hatten schon vor einiger Zeit ihre Studienplätze in Venezuela aufgegeben und seitdem in Quito, der Hauptstadt des Nachbarlands Ecuador, gelebt und gekellnert. Doch mit der Coronakrise gab es auch dort bald keine Arbeit mehr, das Leben wurde schwieriger.
Angetrieben hat sie die Hoffnung, dank dem neuen US-Präsidenten Joe Biden endlich Gewalt und Elend in ihren Herkunftsländern zu entkommen.
Nun sitzen sie bei 43 Grad Celsius in der Wüste und werden die Hitze wohl noch eine Weile ertragen müssen. Seit der Grenzübertritt in der Nähe der Kleinstadt Altar im Westen Mexikos so kläglich gescheitert ist, fahren die drei die Grenze auf mexikanischer Seite ab. Sie sprechen nur, wenn sie unter sich sind. »Damit niemandem unser Akzent auffällt«, erläutert Gaby. Sie wissen, wie gefährlich die Grenzregion ist – besonders für Menschen wie sie, mit dem insgeheimen Ziel, die Vereinigte Staaten zu erreichen.
Sie passierten Nogales, Agua Prieta, Janos und gelangten schließlich in die 1,5 Millionen Einwohner zählenden Metropole Juárez mit ihren vier Grenzübergängen. Doch auch hier gab es keine Chance auf Asyl. Ein zweites Mal schickte sie ein Beamter der U.S. Customs and Border Patrol zurück auf mexikanisches Territorium. Title 42 nennt sich der Abschnitt der Gesundheitsgesetzgebung, mit dem der damalige US-Präsident Donald Trump im März 2020 das Recht auf Asyl angesichts der Coronakrise aussetzte. Dieser Erlass wurde bis heute nicht aufgehoben.
Ori, Gaby und Michael werden warten. Darauf, dass unter Joe Biden die Grenze doch noch geöffnet wird. Zumindest haben sie »zu essen und ein Dach über dem Kopf« in der städtischen Sportanlage Kiki Romero in Ciudad Juárez. Dort kommen diejenigen Flüchtlinge unter, die an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze abgewiesen wurden.
Zuflucht für Babys und Kleinkinder
In der Sporthalle sind die hohen Wände in freundlichem Hellblau gestrichen, Stockbetten und Plastiktische verstellen den größten Teil des Basketballfelds. Draußen hat Unicef Waschbecken, Toiletten, Duschen und Zelte zum Windelwechseln aufgestellt. Denn die meisten, die hier untergebracht sind, sind Babys und Kleinkinder, die mit ihren Müttern und manchmal auch Vätern hierher gereist sind – aus Honduras, El Salvador und Guatemala. Ihre Reise war gefährlich, oft haben sich die Menschen hoch verschuldet, um sie unternehmen zu können. Angetrieben hat sie die Hoffnung, dank dem neuen US-Präsidenten Joe Biden endlich Gewalt und Elend in ihren Herkunfts- und Transitländern zu entkommen.
Insbesondere in Zentralamerika wütet die Bandengewalt, vielerorts bestimmen bewaffnete Gangs den Alltag der Menschen. Die Klimakatastrophe hat dort längst eingesetzt, mit immer häufigeren und verheerenden Hurrikans und Dürren – und nun ist auch noch die Wirtschaft wegen der Covid-19-Pandemie kollabiert. Wenn die Flüchtenden an der US-Grenze ankommen und dann nicht einmal einen Asylantrag stellen können, bricht für viele eine Welt zusammen.
»Die Menschen kommen verzweifelt hier an, sie sind durcheinander und können es nicht fassen, wieder in Mexiko zu sein«, berichtet Rogelio Pinal, der Menschenrechtsbeauftragte der Stadt Juárez. Er nimmt täglich 100 bis 200 Menschen in der umfunktionierten Sportanlage auf. Eigentlich besagt Title 42, dass wegen der Pandemie alle, die an der Grenze festgenommenen werden, am nächsten internationalen Übergang abgeschoben werden müssen, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. Doch stattdessen machen sich US-Grenzbehörden die Mühe, aufgegriffene Flüchtlinge manchmal Hunderte Kilometer entfernt zurück über die mexikanische Grenze zu schicken. Wer die US-Grenze im Westen von Juárez heimlich überschreitet, wird über 100 Kilometer östlich von Juárez in Puerto Palomas herausgelassen, einem 5 000-Einwohner-Städtchen mitten in der Wüste. Seit August 2020 hat die dortige Migrantenherberge täglich 1 000 Personen aufgenommen. Geflüchtete hingegen, die im Rio Grande Valley bei Brownsville, Texas, aufgegriffen wurden, das an der Ostküste liegt, 1 400 Kilometer von Juárez entfernt, werden bis nach El Paso geflogen und dort über die Grenzbrücke nach Juárez entlassen.
»In El Paso wird den Geflüchteten gesagt, dass sie nur diese eine Brücke überqueren müssten, um zur Behörde zu gelangen, die ihren Asylantrag aufnehmen werde«, erzählt Rogelio Pinal. »Wenn sie dann oben auf der Brücke ›Welcome to Mexico‹ lesen, brechen die meisten in Tränen aus.« In der Notunterkunft sei es oft schwierig, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Dabei gebe es genug Notfälle, bei denen die städtischen Angestellten schnell handeln müssten. »80 Prozent der Kleinkinder und Babys kommen in einem kritischen Gesundheitszustand an«, berichtet Pinal. Flucht und Abschiebehaft hinterließen ihre Spuren. Viele Kinder seien dehydriert oder hätten eine Lungenentzündung, die schwersten Fälle müssten sie ins Kinderkrankenhaus bringen.
Warten auf die Grenzöffnung
So ist Rogelio Pinal froh, wenn Kinderlärm durch die Sportanlage dringt – und nicht dieses »alarmierende kleine Husten«. Das bereite ihm Gänsehaut. »Die Kinder wissen nicht, was vor sich geht. Sie leben im Moment. Wir versuchen, ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen.« Wenn sie dann gingen, frage er sich oft, was aus ihnen werde. »Denn die Türen bleiben geschlossen.« Präsident Biden habe bislang keine Anstalten gemacht, Trumps Title 42 zurückzunehmen. »Das Recht auf Asyl bleibt ausstehend.«
In Bidens ersten fünf Monaten als US-Präsident sind 400 000 Flüchtlinge von den US-Behörden aufgegriffen und nach Mexiko ausgewiesen worden, viele von ihnen wohl mehrmals. So bleiben die metallenen Etagenbetten der Sportanlage Kiki Romero gut belegt mit Reisetaschen und Menschen, die leise in ihr Handy reden – mit Freunden und Familienmitglieder, die sie zurückgelassen haben oder die jenseits der Grenze warten. Ein paar kleine Mädchen springen und johlen aufgeregt um ein auf dem Boden aufgebautes Spiel herum. Auf dem Vorhof sitzen Erwachsene unter einigen schattenspendenden Bäumen. Dahinter fahren hupende Autos und röhrende Linienbusse über die Hauptverbindungsstraße im Westen der Stadt. Die schroffe Hügelkette der Sierra de Juárez scheint in der Nachmittagssonne förmlich zu glühen. Ihr gegenüber liegen die Franklin Mountains, direkt hinter El Paso in Texas. El Paso und Juárez sind eigentlich Zwillingsstädte. Sie trennt nur ein Grenzstreifen aus staubigem Niemandsland, mit weiten Betonkanälen und einem Zaun aus rostroten Stahlstangen. Er wurde während der Pandemie noch einmal mit drei Reihen weißglänzenden Nato-Drahts erhöht.
Dass es trotz der steigenden Zahl Abgeschobener nicht zur humanitären Krise an der Grenze kommt, zeugt von einem guten Zusammenspiel der Zuständigen in der staubigen Grenzmetropole Juárez mit ihren endlosen Wohnvierteln und Industrieparks. »Juárez ist auf nationaler wie internationaler Ebene beispielhaft«, schließt Rogelio Pinal mit Genugtuung. »Wir haben hier geschafft, zwischen den drei Regierungsebenen als Team zusammenzuarbeiten, unabhängig von Parteizugehörigkeiten.«
In der Pandemie steht alles still
Zwei Dutzend Migrantenherbergen in Juárez sind seit Beginn der Pandemie mit Menschen im Transit überfüllt. Schuld daran ist auch ein weiteres Dekret der Regierung Trump, das oft »Bleib in Mexiko«-Erlass genannt wird. Ab Januar 2019 mussten Flüchtlinge, die in den USA einen Asylantrag gestellt hatten, zurück nach Mexiko, um dort auf ihren Bescheid zu warten. Die mexikanische Regierung musste das akzeptieren, denn Trump drohte, sonst die mexikanische Exportwirtschaft mit Zollerhöhungen zu ruinieren.
Zehntausende Asylanwärter, vor allem aus Mittelamerika, mussten seitdem in mexikanischen Grenzstädten ausharren. Über die lange Zeit haben manche Geflüchtete hier auch Kinder geboren – darunter die Kubanerin Yumi. Die große schlanke Frau mit den filigranen Tattoos hatte sich im Zentrum von Ciudad Juárez mit ihrem Baby in einem kleinen Zimmer eingemietet, in einem fensterlosen Komplex, der nur von kubanischen Geflüchteten bewohnt wird. »So fühle ich mich nie alleine«, lachte Yumi bei einem Besuch vor einigen Wochen – obwohl sie doch in Mexiko niemanden habe, nur den kleinen Jungen, den sie hier zur Welt gebracht hat. Ihre Mutter unterweist sie per Videochat. Wie man eine Windel wechseln müsse, hat Yumi auf Youtube gelernt.
Nach der Ausreise aus Kuba nach Guayana vor zweieinhalb Jahren hat die 37jährige zehn weitere Länder durchquert. In der Region Darién in Panama musste sie sich zu Fuß durch den Urwald kämpfen. Sie glaubte, sie würde da niemals herauskommen. Als sie schließlich die Grenze zu den USA erreichte, kam Yumi wegen Trumps Blockadepolitik nicht weiter. So ging es Zehntausenden Geflüchteten, die in mexikanischen Grenzstädten ausharren mussten. In Matamoros an der Ostküste campierten mehrere Hundert Menschen auf freiem Feld.
Gemessen daran ginge es ihr eigentlich noch ganz gut, sagt Yumi und weist auf das möblierte Zimmer mit Bad und Küchenecke. Die Tür zum Gang steht tagsüber offen, so kommen Licht und Luft herein. Auch die daneben liegenden Türen sind meist geöffnet. Eine Nachbarin mit frischer Farbe in den aufgetürmten Haaren lugt herein und fragt Yumi nach einer Bratpfanne. Yumi erzählt, dass sie selten den Wohnkomplex verlässt. Dessen Eigentümer betreibt gleich nebenan einen kleinen Laden. Eine atemberaubende Produktauswahl gibt es dort, findet die aus Kuba geflohene Yumi.
Die zweitgefährlichste Stadt der Welt
Yumis Vermieter ist ein alteingesessener Einwohner von Juárez. Er ist froh, dass alles vermietet ist. Die kubanische Gemeinde hat das Zentrum von Juárez neu besiedelt – und haucht ihm mit den Dollars von Verwandten in den USA neues Leben ein. Nach der Jahrtausendwende war die Gewalt des Drogenkrieges in Juárez eskaliert. 2008 zog in der »Operation Chihuahua« sogar das mexikanische Militär und später die Bundespolizei in die Stadt ein, um das dort ansässige Juárez-Kartell und seinen bewaffneten Arm Los Aztecas zurückzudrängen. Ganze Straßenzüge lagen jahrelang brach.
Die neuen Bewohner haben keine Erinnerungen an die Schießereien der Kartelle und die Übergriffe und Erpressungen der entfesselten Ordnungskräfte. Sie treffen sich bei Sonnenuntergang zum Plausch an der Straßenecke. Doch die Ruhe täuscht. Während der Pandemie stieg die Zahl der Morde in der Stadt erneut. Weltweit geschlossene Grenzen belebten den Drogenhandel und führten zur Neuaufteilung von Territorien. Juárez ist inzwischen wieder die zweitgefährlichste Stadt der Welt – nach Tijuana, das ganz im Westen an der Grenze zu den USA liegt. Seit Jahren gibt es in Nordmexiko Mordraten, wie sie sonst nur in Kriegsgebieten auftreten.
Unter der Gewalt und der Gesetzlosigkeit leiden auch die Flüchtlinge. Human Rights Watch hat 3 300 Fälle dokumentiert, in denen Flüchtlinge, die von den USA zurückgewiesen worden waren, Opfer schwerer Verbrechen wurden. Viele wurden vergewaltigt, entführt oder Opfer des Menschenhandels.
Hinzu kommen die pandemiebedingten wirtschaftlichen Einschränkungen und die weiterhin geringe Hoffnung auf ein Asylverfahren in den USA. Das alles zermürbte die meisten der Kleinfamilien und Alleinreisenden aus Mittelamerika, Kuba, Brasilien und Venezuela. Viele kehrten frustriert in ihre Herkunftsländer zurück, andere versuchten den heimlichen – und laut der nach US-Recht illegalen – Grenzübertritt.
Doch im Februar wurden die verbliebenen 25 000 bis 30 000 Geflüchtete in Juárez, Tijuana und Matamoros für ihr Durchhalten belohnt – so auch Yumi mit ihrem Baby. Biden entschied, den »Bleib in Mexiko«-Erlass seines Vorgängers zu widerrufen. Die Betroffenen sollten nun mit Hilfe von UN-Organisationen ins Land geholt werden. Yumi strahlte, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in der kubanischen Gemeinde verbreitete. »Ich kann es noch immer nicht glauben. Jetzt warte ich, dass sie mich aufrufen.« Den ganzen Tag starrte sie auf ihr Handy und fieberte dem entscheidenden Anruf entgegen. »In den USA habe ich mit einem Anwalt viel bessere Chancen, meinen Asylprozess zu gewinnen.« Von Mexiko aus haben seit 2019 nicht einmal 700 Geflüchtete einen positiven Asylbescheid erhalten. »Jetzt fehlt nur noch der letzte Schritt«, summte Yumi und hebt ihr Baby in die Luft. Und tatsächlich prüfte das UNHCR ihren Fall und schließlich leiteten sie Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) an einem Mittag im Juni in ihren blauen Westen über die Grenzbrücke Santa Fe nach El Paso. Yumi wartet nun in Miami auf ihren Asylbescheid.
Das gesamte Team der IOM war die vergangenen Monate im Dauereinsatz. Alex Rigol, ein Katalane, der das Büro der UN-Organisation in Ciudad Juárez aufgebaut hat, wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist eine große Erleichterung für die Menschen, dass sie endlich in die Vereinigten Staaten können.« Doch seit Februar haben sie erst 11 000 Personen über die Grenze gebracht, davon 5 200 in Juárez.
Hoffnung für manche, Enttäuschung für die meisten
In Juárez etablierten sich erstmals UN-Organisationen, als dort ab Januar 2019 immer mehr Flüchtlinge strandeten. Im Sommer 2019 erreichten Flucht und Migration an die Grenze ihren ersten Höhepunkt, erst im Lockdown sanken die Zahlen wieder. Doch »pünktlich zu US-Präsident Bidens Amtsantritt schossen sie wieder enorm in die Höhe«, sagt Rigol. Professionelle Schleuser hätten sich die Hoffnung der Menschen zunutze gemacht und Bidens Wahlversprechen für eine Werbekampagne in eigener Sache genutzt.
Doch eine grundlegende Änderung der Asylpolitik gab es nicht. Auch die neue US-Regierung hat eine klare Botschaft an die Menschen in Zentralamerika: »Kommt nicht.« Zweimal sagte Vizepräsidentin Kamala Harris dies, als sie kürzlich bei einem Besuch in Guatemala vor den Fernsehkameras sprach. Sie wolle das ganz klar an »die Menschen richten, die darüber nachdenken, sich auf den gefährlichen Weg an die US-amerikanische Grenze« zu machen: »Kommt nicht!«
Auch an den Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in den USA hat sich manches geändert – aber vieles auch nicht. Erst vorige Woche berichtete die BBC von einem Aufnahmelager in Texas, in dem geflüchtete Kinder unter grausamen Umständen festgehalten werden. Von ungenießbarem Essen, Covid-19-Ausbrüchen und sogar von sexuellem Missbrauch ist die Rede.
Auch die neue US-Regierung hat eine klare Botschaft an die Menschen in Zentralamerika: »Kommt nicht!«
Die IOM ist damit beschäftigt, die wenigen Auserwählten auf den Grenzübertritt vorzubereiten. Doch Alex Rigol bereitet auch die Situation der neu Ankommenden und gleich wieder Abgeschobenen Sorgen, die keine Chance erhalten, einen Asylantrag zu stellen. Über die US-amerikanische Migrationspolitik mag und kann er in seiner Position aber nicht urteilen. »Unsere Aufgabe ist es, für die humanitären Herausforderungen an der Grenze eine Lösung zu finden, egal welcher Präsident in den USA gerade an der Macht ist.«
Ob unter Trump oder Biden, Ciudad Juárez müsse eine Antwort auf die Geschehnisse im Nachbarland finden und auf der lokalen Ebene auf internationale Politik reagieren, so Rigol. »Und das tut diese Grenzstadt mit Bravour.« Ein Vorteil sei, dass es keine rassistischen Gruppen gebe, die den gesellschaftlichen Diskurs mitbestimmten, wie dies in Tijuana der Fall sei. Stolz ist Rigol auf das Hotel Filtro, eine Quarantänestation für Geflüchtete und Migrierende – ein regionales Pilotprojekt, initiiert von zivilgesellschaftlichen Initiativen und finanziert von internationalen Organisationen.
»Ohne dieses Projekt hätte Corona viel mehr Menschen im Transit getroffen«, ist Rigol überzeugt. Neuankommende und Abgeschobene hatten dadurch zu allen Zeiten die Möglichkeit, in einer freundlichen Atmosphäre eine Quarantäne oder Genesung zu durchlaufen. »Anschließend gibt es die Möglichkeit, mit einem Gesundheitszertifikat langfristig in einer Herberge unterzukommen.«
Im Hotel Filtro hätten Menschen darüber hinaus die Möglichkeit, nach Gewalterfahrungen, Flucht, Festnahme und Abschiebung mit psychologischer Begleitung zur Ruhe zu kommen. Alex Rigol erinnert sich an eine Mutter mit einem Sohn im Rollstuhl, die gemeinsam die Wüste durchquert hatten. »Solche Geschichten brechen einem das Herz.« Es müsse eine Migrationspolitik unterstützt werden, die die Menschenrechte im Auge habe und die »erlaubt, dass Menschen legal in andere Länder migrieren können«, schließt Rigol.
Er verlässt das im Retrostil gehaltene moderne Bürogebäude und tritt ins Freie. Die Fußgängerzone von Juárez quillt über vor Menschen. Die meisten sind Zugezogene aus anderen Bundesstaaten Mexikos, oder sie kommen aus weiter südlich liegenden Ländern und konnten die US-Grenze nie überwinden. In der Grenzstadt wird das nicht so genau genommen. Nicht einmal die schwule Schlagerikone Juan Gabriel, der auch posthum am meisten verehrte Bürger der Stadt, wurde in Ciudad Juárez geboren. Sein Konterfei prangt über der Juárez-Allee, die zur Grenzbrücke und dann ins Zentrum von El Paso führt. Der zwischen den Zwillingsstädten liegende Fluss, in den USA Rio Grande, in Mexiko Río Bravo genannt, ist seit gerade einmal 173 Jahren ein Grenzfluss. Damals gewannen die USA einen Krieg gegen Mexiko und verschoben die Grenze um Hunderte Kilometer nach Süden. Davor war das damalige El Paso del Norte einfach eine Stadt mit einem Fluss in der Mitte gewesen.