Ein Rückblick auf die Diskographie von Sleater-Kinney

Words and Guitar

Zehn Alben haben Sleater-Kinney in den 27 Jahren seit ihrer Gründung aufgenommen, von denen das zehnte, »Path of Wellness«, kürzlich erschienen ist. Ein Rückblick auf die Diskographie der wohl besten Band der Welt.

»Sleater-Kinney«
(LP: Villa Villakula, CD: Chainsaw Records, 1995)

1995 spielten die beiden Gitarristinnen Corin Tucker und Carrie Brownstein erst seit einem Jahr unter dem Namen Sleater-Kinney, waren nach Misty Farrell und Stephen O’Neil (The Cannanes) aber bereits bei der dritten Besetzung am Schlagzeug angelangt, der schottisch-australischen Indie-­Musikerin Lora MacFarlane. Nach einer frechen Single und Compilation-Tracks auf Tinuviel Sampsons feministischem Label Villa Villakula erschien dort das Vinyl vom Debütalbum, die CD-Version aber auf Donna Dreschs Queercore-Label Chainsaw. Selten klang Angst durchdringender als auf diesem derben wie dunklen Erstlingswerk, das mit zehn Liedern in weniger als 23 Minuten aufwartet. Corin Tucker kreischt sich die Seele aus dem Leib und Carrie Brownsteins Schreien auf »The Last Song« stellt mit Leichtigkeit ganze Karrieren mediokrer männlicher Hardcore-Bands in den Schatten. Mit Sicherheit nicht nur das unterschätzteste Album der Bandgeschichte, sondern des Punk in den neunziger Jahren überhaupt.

 

»Call the Doctor« 
(Chainsaw Records, 1996)

Album Nummer zwei zeigte eine enorme musikalische Weiterentwicklung. »Call the Doctor« ist das streckenweise intelligenteste Album von Sleater-Kinney, das sich einerseits vor der avancierten Musikszene im Nordwesten der USA verneigte, in der die Band entstanden war (Olympia, Washington), zugleich aber äußerst eigenständig vorwärtspreschte und bei allem Zorn auf die Ausprägungen misogyner Kultur Anflüge von Zärtlichkeit nicht scheute: Selten wurde Unsicherheit so ehrlich vorgetragen wie auf »Heart Attack«. Mit dem Titelsong sowie mit »Hubcap«, »Taste Test« und insbesondere mit »Stay Where You Are« fanden Sleater-Kinney derweil zu ihrem Sound, der sie für lange Zeit kennzeichnen sollte. Auch eine typische Songstruktur schälte sich heraus: ein kontrapunktisches Gespräch, in dem sich die widerstrebenden Gesangsparts von Tucker und Brownstein zum Lied fügten – hier sogar mehrstimmig durch die Beiträge von Lora MacFarlane. Auf der zugehörigen Tour begleitete die Band bereits Schlagzeugerin Nummer vier, Toni Gogin, bevor sie sich im Sommer 1996 mit Janet Weiss an den Drums endgültig konsolidierte.

 

»Dig Me Out«
(Kill Rock Stars, 1997)

Sleater-Kinney sind zwei Dinge (zum Glück!) nie gewesen: bedächtig und experimentell. Bestes Beispiel dafür ist diese schnörkellose Platte, auf der jeder Song sofort losgeht, man nach Sekunden weiß, welche Gitarrenriffs und was für ein Rhythmus einen für die nächsten etwa drei Minuten begleiten werden.

»Dig Me Out« ist aus mehreren Gründen das exemplarische Album der Band: Es bescherte ihnen den Durchbruch, war das erste zusammen mit der Drummerin Janet Weiss, die diese Position für immerhin 23 Jahre innehaben sollte, und enthält die Hits »Dig Me Out« und »One More Hour« (in dem es übrigens um die Liebesbeziehung zwischen Brownstein und Tucker und deren Ende geht). Das schönste Lied allerdings hört auf den Namen »Heart Factory« und ist eine Art Werbejingle für die titelgebende Fabrik, die Herzen herstellt. Gesungen von Brownstein, offenbart er ihr fast schon morbides Interesse am menschlichen Körper, das immer wieder in den Lyrics der kommenden Platten durchschimmerte. Und ein anderer Song proklamiert klar, was diese Band sein will: »Words and ­Guitar«.

 

»The Hot Rock«
(Kill Rock Stars, 1999)

Als kurz vor dem Jahrtausendwechsel obskure Warnungen vor dem bevorstehenden Weltuntergang kursierten, entgegneten Sleater-Kinney gelassen: »I’ve no millennial fear / The future is here / It comes every year«. Nach dem Erfolg von »Dig Me Out« überraschte das Nachfolgealbum »The Hot Rock« von 1999 mit einem melancholischen, fast schon introvertierten Grundton. Zugleich war die Interaktion zwischen Tucker und Brownstein perfektioniert, so dass sich manche Songs – insbesondere »Burn, Don’t Freeze« und »One Song for You« – anhörten, als hätten Sleater-Kinney nie anders geklungen. Auch die melodiösen Höhen, zu denen sie sich aufschwangen, suchten nunmehr ihresgleichen, und »The End of You« führte alle bislang erwiesenen Qualitäten in einem Lied zusammen. Daran, wie wichtig ihnen der community-Gedanke trotz des Ruhmes geblieben war, erinnerte wiederum das Video zu »Get Up«, bei dem Miranda July Regie führte. Was Musik angeht, konnte das 20. Jahrhundert kaum schöner verabschiedet werden.

 

»All Hands on the Bad One«
(Kill Rock Stars, 2000)

Eine fünfteilige Fotoserie der Künstlerin Zoe Leonard mit dem Titel »Preserved Head of a Bearded Woman (Musée Orfila)« von 1991 zeigt einen unter einer Glasglocke konservierten Kopf einer Frau mit Bart im Archiv eines Museums. Leonard nahm nicht nur eine, sondern gleich mehrere Ansichten des Kopfes auf, aus unterschiedlichen Richtungen, und näherte sich so der ihr fremden Frau an, deren Kopf vor langer Zeit als Kuriosum im Museum gelandet war.

Als Kuriosum galten dem traditio­nellen Rock-Business auch 2000 noch Frauenbands, und davon handelt nicht nur der erste Song (»Ballad of a Ladyman«) der Platte. »All Hands on the Bad One« ist wohl das feministische Album der Band, und wie Leonard in ihren Fotografien, so nähern sich auch Sleater-Kinney ihrem Subjekt aus unterschiedlichen Richtungen an. »#1 Must Have« rekapituliert (nicht grade euphorisch) die kurze Geschichte der Riot Grrrls und in »You’re No Rock ’n’ Roll Fun« dreht sich alles um die ätzende Attitüde von Männerbands. Gleichzeitig ist es das melodisch abwechslungsreichste Album der Band, »Milkshake ’n’ Honey« klingt gar etwas groovy.

 

»One Beat«
(Kill Rock Stars, 2002)

Sleater-Kinneys sechste, 2002 veröffentlichte Platte heißt »One Beat« und wird folgerichtig von Janet Weiss eröffnet. Die Präzision, mit der sie den Gesang und das Gitarrenspiel von Tucker und Brownstein zusammenhielt und antrieb, war beispielhaft und nicht mehr steigerungsfähig. An einigen Stellen fast überproduziert, gleichwohl nie glatt, war dieses Album das bis dato technisch ausgefeilteste der Band. Im Zuge der gesellschaftspolitischen Folgen des 11. September 2001 ließen sie sich zu ein paar Liedern hinreißen, die rückblickend etwas ­didaktisch anmuten (»Combat Rock«, »Step Aside«). Das ist aber unerheblich, denn bei »One Beat« handelt es sich um ein Rockalbum erster Güte. Wer ein Lied über einen durch Portland streunenden Kojoten aus dem Ärmel schütteln kann und dieses Lied noch zwei Jahrzehnte später die Wände wackeln lässt (»Light Rail Coyote«), darf mit Fug und Recht eine der wichtigsten Bands der letzten Jahrzehnte genannt werden.

 

»The Woods«
(Sub Pop, 2005)

Es gibt Alben, auf denen sind alle Lieder irgendwie gut, sie laufen durch wie ein einziger langer Song. Und es gibt Alben, die ein paar Highlights aufweisen können, und der Rest drumherum ist Staffage, um genau diese Höhepunkte zu rahmen. »The Woods« ist von der zweiten Sorte, und das ist nicht abwertend gemeint, denn diese drei hervorstechenden Songs haben es so sehr in sich, dass sie sogar ein ansonsten mieses Gesamtwerk wettmachen könnten. In »Jumpers« geht es um Selbstmord, der Text aus der Sicht einer Person geschrieben, die sich von der Golden Gate Bridge stürzt. »Jumpers« sind auch Brownstein und Tucker, zumindest sieht man sie in Livevideos während der – was für ein Zufall – Bridge des Songs munter auf- und abspringen. In »Entertain« ist Brownstein, die ihn singt oder vielmehr schreit, so herrlich wütend wie seit dem Debütalbum nicht mehr. Und das eigentliche Finale, der vorletzte Track »Let’s Call It Love«, ist nicht nur der längste, sondern auch arguably der beste Song dieser Band – so sexy hat noch nie jemand über Liebe gesungen. Einen langweiligen wie völlig überschätzten Song wie »Modern Girl«, der zwischen diesen Perlen eben auch zu finden ist, überspringt man am besten einfach.

 

»No Cities to Love«
(Sub Pop, 2015)

Die zehn Jahre Pause, die Sleater-Kinney sich genommen hatten, hört man dieser Platte überdeutlich an. Laut ist sie, sehr laut, vielleicht an manchen Stellen ein wenig zu laut. Getreu dem Motto »Put your top three batters first« von Produzent John Goodmanson (der schon vorher einige Alben der Band aufgenommen hatte) sind auch hier die ersten drei Lieder die größten Kracher. Apropos: Perfekt ­produziert ist sie auch, daneben glasklar, bombastisch, dramatisch, einnehmend, brutal. Ein fulminantes Comeback – aber so recht will »No Cities to Love« nicht zu den vorangegangenen Alben passen. Vom Indie-Genre, dass Sleater-Kinney ­einmal maßgeblich mitgeprägt hatten, ist hier nicht mehr viel zu hören. »No Cities to Love« ist durch und durch ein Rockalbum. Aber was für eines! Und hört man es im Nachhinein, ist man froh, dass Janet Weiss hier nochmal richtig auf die Drums hauen durfte, was ihr beim Nachfolger leider weitestgehend verwehrt blieb.

 

»The Center Won’t Hold«
(Mom + Pop, 2019)

Erhebliche Veränderungen fallen hier sofort auf. Die Platte wird zwar mit einem wendigen Kracher eröffnet, wie man ihn von Sleater-Kinney erwartet, auf diesen folgen dann allerdings Popsongs, die sich nicht dafür schämen wollen, solche zu sein – und im Falle von »Reach Out« auch nicht aufgesetzt klingen. Ebenfalls neu: Das Album wurde von St. Vincent, einer anderen Musikerin, produziert. Ebenso neu, leider: krampfhaft exzentrisches Artwork. Genau das erlaubt Rückschlüsse darauf, warum nun plötzlich alles anders sein sollte – offenbar herrschte nun die Annahme, dass in diesem Stadium der Band ein neuer Stil unverzichtbar sei: Es gab sogar einen »Na-na-na-na«-Chorus auf einem Stück, durchgängig aber gedämpfte Drums. Die Leidtragende, eben ­Janet Weiss, zog Konsequenzen: Wird eine der weltbesten Schlagzeugerinnen derart verprellt – und das auch noch bei dieser Bandgeschichte –, ist nicht die Schaffenspause von 2007 bis 2014, sondern Janet Weiss’ Ausstieg aus Sleater-Kinney als ­eigentlicher Bruch in der Bandgeschichte zu verstehen.

 

»Path of Wellness«
(Mom + Pop, 2021)

Dass »The Center Won’t Hold« von St. Vincent produziert wurde und diese für einen, naja, neuen Sound der Band gesorgt hatte, gefiel nicht allen, besonders eben Janet Weiss nicht, die nach dem Album die Band verließ. Das merkt man »Path of Wellness« immer wieder an, denn die Drums sind keineswegs so dominant wie bei früheren Alben. Doch was an der vorherigen Platte nervte, der fast schon synthetische Sound, ist hier wieder korrigiert, nicht zuletzt wohl deswegen, weil Brownstein und Tucker, zum ersten Mal, die Produktion einer ihrer Platten selbst in die Hand genommen haben. Dennoch bleiben die beiden streckenweise unter ihren Fähigkeiten: »Path of Wellness« klingt eher wie das Album einer neuen, jüngeren Band, die, inspiriert von Sleater-Kinney, ein Album aufgenommen hat, nicht wie die Band selbst. Vielleicht aber hätten Sleater-Kinney, wären sie eben erst gegründet worden, nie anders geklungen: Eigentlich all ihre Alben besitzen starken Zeitkolorit: Erst war es Riot Grrrl, dann Indie-Rock, und jetzt klingen sie eben nach alternativem Pop.