Autoritäre Entwicklungen in Griechenland

Die autoritäre Transformation

In Griechenland agiert die Regierungspartei Nea Dimokratia immer autoritärer. Flüchtlinge und Linke werden zu Feinden erklärt, die Hochschulen sollen überwacht werden.

»Eure Tage sind gezählt.« Das rief am 6. März in Athen ein Polizist einer Gruppe von Anwälten zu. Die Szene spielte sich vor einer Polizeistation ab. Den Anwälten wurde der Zutritt zu ihren Mandanten verwehrt, die festgenommen worden waren, weil sie zu einer Demonstration aufgerufen haben sollen. Die Demonstration war nicht illegal – nicht einmal dem restriktiven Demonstrationsrecht zufolge, das die konservative Regierung kürzlich verabschiedet hatte.

Die Regierung will jede Hoffnung auf eine Rückkehr zur Zeit der Sozialkompromisse zerstören.

Normalerweise wäre eine solche Bemerkung eines Polizisten nicht erwähnenswert. Wer das Gewaltmonopol ausübt, nutzt allzu oft solche autoritären Gesten, die, wenn sie überhaupt in der Öffentlichkeit bemerkt werden, als Einzelfälle abgetan werden können. Doch derzeit veranschaulicht derlei, wie die Herrschenden in einer unregierbar werdenden Welt weiterzuregieren gedenken. Wir erleben die Rückkehr einer Politik, die »klassische Arten der Feindschaft und Polarisierung mit Wucht« zurückbringt, wie schon der ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás bemerkte. Das beschränkt sich nicht nur auf Staaten der Peripherie, vielmehr handelt es sich um einen globalen Trend. Dieser ist ein Ausdruck der Stagnation der kapitalistischen Wirtschaft, die unter anderem eine tiefgreifende Schwächung der europäischen Sozialdemokratie bewirkte – ein Prozess, der sich nach der Wirtschaftskrise 2008 nur beschleunigte.

In Griechenland fand der erste Versuch klassisch sozialdemokratischer Politik statt, als Pasok 1981 die Regierung übernahm. Dieser Versuch fand bereits unter für keynesianische Politik ungünstigen internationalen Bedingungen statt und wurde schon bald wieder aufgegeben. In gewisser Weise stellte die Regierungszeit von Syriza ab 2015 einen Versuch dar, das sozialdemokratische Programm der alten Pasok zu reaktivieren. Diesmal scheiterte er nicht nur an einem feindseligen internationalen Umfeld, sondern auch an der Entscheidung von Syriza, Reformen mit einem Sparprogramm zu verbinden. Doch das sozialdemokratische Modell, das auf Integration und Kompromiss gebaut ist, hat dennoch in Teilen überlebt, vor allem durch die Sturheit von Resten der organisierten und nichtorganisierten Arbeiterklasse. Bis heute gibt es in Griechenland anachronistisch erscheinende Gesetze und Verfassungsvorschriften, die, entgegen dem neo­liberalen Diktat, soziale und kollektive Rechte festschreiben.

Damit Schluss zu machen, war schon seit Jahrzehnten das Anliegen der herrschenden Klasse Griechenlands. Die von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erzwungene Austeritätspolitik ab 2010 kann als Versuch gewertet werden, diese Bestrebung von außen zu unterstützen. Das war größtenteils erfolgreich; die Massenbewegungen, die sich dagegenstellten, sind gescheitert. Soziale Rechte wie die Tarifbindung wurden abgeschafft, Löhne, Renten und Sozialleistungen erheblich gekürzt. Überdies hatte die extrem hohe Arbeitslosenquote (2012 lag die Jugendarbeitslosigkeit bei über 65 Prozent) eine enorme disziplinierende Wirkung auf die Arbeiterinnenklasse. Dieser Zustand hält an, 2020 waren immer noch mehr als Drittel der jungen Griechen arbeitslos; nun drängt eine junge Generation auf den Arbeitsmarkt, die nichts anderes kennt als Niedriglöhne und eine besiegte und machtlose Arbeiterinnenklasse.

Offiziell wurden diese Politik damit gerechtfertigt, dass man vorübergehend Opfer bringen und den Gürtel enger schnallen müsse, damit Griechenland Teil der Euro-Zone bleiben könne. Dass es sich nur um vorübergehende Maßnahmen handeln sollte, erwies sich aus Sicht der Herrschenden bald als problematisch, implizierte es doch, dass, wenn die direkte Gefahr des wirtschaftlichen Kollapses gebannt war, der Gürtel auch wieder gelockert werden könne. Das sozialdemokratische Modell war also nicht komplett perdu, sondern überlebte im Bewusstsein der Arbeiterinnenklasse.

Die autoritäre Staatsumgestaltung

In diesem Kontext steht die seit 2019 amtierende Regierung der konservativen Nea Dimokratia einerseits für Kontinuität. Die Partei gilt traditionell als proeuropäisch, der Parteivorsitzende und Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ist Sprössling einer prominenten politischen Familie. Seine Regierung steht fest hinter dem neoliberalen EU-Programm und will die sogenannten Strukturreformen zu Ende bringen, die mit den noch von Pasok eingeleiteten neoliberalen Reformen in den achtziger Jahren begannen und unter dem Krisenmanagement der sogenannten Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF) weiter vorangetrieben wurden. Geplant sind weitere Arbeitsmarkt- und Rentenreformen; eine Teilprivatisierung des Elektrizitätsnetzes fand Anfang des Jahres statt. Aber Nea Dimokratia repräsentiert auch etwas Neues: Die Regierung will jede Hoffnung auf eine Rückkehr zur Zeit der Sozialkompromisse zerstören und den Staat und seine Institutionen autoritär umgestalten.

Die Jahre der Austerität haben zu einer politischen Repräsentationskrise geführt: Etablierte Parteien wie Pasok sind fast völlig verschwunden; populistische Parteien (wie Syriza auf der Linken und die »Unabhängigen Griechen« auf der Rechten) versuchten, diese Lücke zu füllen. Doch Syrizas Fortführung der Sparpolitik, kombiniert mit bescheidenen Versuchen, Steuern zu erhöhen, hat einen neuen sozialen Block geschaffen. In diesem finden sich Gruppen, die unter der Sparpolitik gelitten haben und dafür nun paradoxerweise Syriza verantwortlich machen, ebenso wie rechte und rechtsextreme Elemente, die alles hassen, was mit der Linken zu tun hat. Letztere wurden zuletzt gestärkt, unter anderem wegen der na­tionalistischen Mobilisierung gegen die von der EU und den USA vermittelte Lösung des absurden Streits um den Namen des Nachbarlands Nordmazedo­nien (bis 2019 Mazedonien). Eine wichtige Rolle spielten aber auch die Migra­tionskrisen von 2015 und März 2020.

Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die konservative Nea Dimokratia nicht mehr nur zu Wahlkampfzwecken mit der extremen Rechen flirtet.

Seit die neonazistische Partei »Goldene Morgenröte« verboten wurde und viele ihrer Kader vor Gericht stehen, ist ein Teil der Wählerschaft der extremen Rechten zur Nea Dimokratia zurückgekehrt. Doch anstatt dort wieder ihre traditionelle Randposition einzunehmen, geben die Rechtsextremen immer stärker die Richtung vor. Das zeigt auch ein Blick auf das Regierungskabinett. Beispielsweise leitet seit Anfang des Jahres Makis Voridis das ­Innenministerium, der auf eine lange Vergangenheit in rechtsextremen Organisationen zurückblickt. Auch mit antisemitischen Anspielungen war er schon aufgefallen, zum Beispiel dass das Tagebuch der Anne Frank eine Fälschung sei oder die Protokolle der Weisen von Zion von Historikern studiert werden sollten. Im Wahlkampf versprach Voridis, er werde die Grundlagen schaffen, »damit die linke Ideologie keinen Fuß mehr auf die Erde bekommt.«

Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Nea Dimokratia nicht mehr nur zu Wahlkampfzwecken mit der extremen Rechen flirtet. Die Vollendung des langen Projekts der angebots­orientierten Wirtschaftspolitik, der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, der Lohn- und Sozialleistungskürzungen, der Privatisierungen und Steuersenkungen, geht Hand in Hand mit rechter Agitation, die nicht nur Migranten zu Feinden erklärt, sondern die gesamte Linke. Im größeren globalen Kontext der schwindenden Profitabilität und schwindenden Ressourcen gesellt sich zum ökonomischen Dogma der immer weitergehenden Austerität mit Notwendigkeit ein repressiver Autorita­rismus.

Gegen Einwanderer und Linke

Zu Beginn hatte die law and order-Partei Nea Dimokratia sich auf Gruppen konzentriert, deren Schicksal die breite Bevölkerung kaum berührte, nämlich Einwanderer und die linksradikale und anarchistische Szene. Flüchtlinge wurden von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen, besetzte Häuser und linke Zentren gewaltsam geräumt. Da es nur minimale Gegenwehr gab, ging die Regierung dann weiter. Sie zielte darauf ab, die Migration einzudämmen, indem sie die Lebensbedingungen der neu angekommenen Flüchtlinge bewusst verschlechterte.

Eine zentrale Komponente dieses Vorhabens war es, die offenen und provisorischen Flüchtlingscamps auf Lesbos, Chios und Samos durch geschlossene Einrichtungen zu ersetzen. Dort sollen die Flüchtlinge eingesperrt bleiben, während sie auf ihre Asylbescheide warten. Diese fallen zudem immer seltener positiv aus. Kürzlich wurde der Katalog der »sicheren Drittländer« um Länder wie Bangladesh und Pakistan erweitert – eine sachlich nicht gerechtfertigte, aber formal legale Umgehung des Rechts auf Asyl.

Doch zur Überraschung der Regierung fand das Vorhaben, Flüchtlingsgefängnisse zu schaffen, wenig Unterstützung. Auf den Inseln stieß es auf den Widerstand der Bevölkerung. Unterstützt wurde dieser von rechten Politikern, die die dort herrschende Unzufriedenheit früh erkannt hatten. Anfängliche Versuche linker Aktivisten, den Protest gegen die Camps um die Forderung nach einer angemessenen Unterbringung der Flüchtlinge zu ergänzen, gingen in der reaktionären Protestbewegung unter. Diese formierte sich unter dem Slogan »Rettet un­sere Inseln« und unter der Führung örtlicher Politiker, die die lächerliche Vorstellung verbreiteten, die Bevölkerung leide unter der Situation sogar mehr als die Flüchtlinge. Der Regierung, so der Vorwurf, seien die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung gleichgültig.

Als Nea Dimokratia im Februar vorigen Jahres Hunderte riot cops schickte, um den Bau der neuen, geschlossenen Camps zu überwachen, verstärkte dies nur das Gefühl der Inselbewohner, von der Zentralregierung ignoriert und unterdrückt zu werden. Tausende Anwohner lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese musste sich geschlagen geben und einen demütigenden Rückzug von den Inseln antreten, was die Unterstützer der Proteste als eine heroische Verteidigung der »Inselautonomie« gegen die Zentralregierung darstellten. Bald wendete sich der Mob gegen die zurückbleibenden »Außenseiter«: die Migranten und die NGOs, die sie unterstützen. Was folgte, kann man nur als Pogrom bezeichnen.

»Unser europäisches Schutzschild«

Wenige Tage später öffnete die türkische Regierung den Landweg nach Griechenland für Flüchtlinge. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte wohl entschieden, Migration als Mittel zu nutzen, um sich weitere Hilfen der EU zu sichern. Der griechischen Regierung kam dies wie gerufen. Sie konnten die Lage nutzen, um ihr ramponiertes Image aufzupolieren, und schloss die Grenzen mit militärischen Mitteln. Damit befriedigte sie die reaktionären Bedürfnisse in der Bevölkerung – und wurde dabei von der EU voll und ganz unterstützt.

Es ist schon wieder weitgehend vergessen, aber damals konnte man schwer zwischen der Rhetorik der lokalen Faschisten, der griechischen Regierung, der EU-Führungskräfte, des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán oder der Identitären Bewegung unterscheiden. Letztere schickte Aktivisten, um »Europas Grenzen zu verteidigen«. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste ebenfalls an die griechisch-türkische Grenze und sagte wörtlich: »Ich bedanke mich bei Griechenland dafür, dass es unser europäischer Schutzschild ist.« Die barba­rischen Konsequenzen, die sich aus dieser Situation hätten ergeben können, wurden nur durch eine andere Katastrophe unterbunden: Covid-19.

Griechenland entging zunächst aus zwei einfachen Gründen den schlimmsten Konsequenzen der Pandemie: Das Land liegt abseits der globalen Handels- und Logistikrouten und die Pandemie begann außerhalb der Tourismussaison. In der damaligen Atmosphäre der Angst und Unsicherheit akzeptierte die Bevölkerung den ersten Lockdown bereitwillig. Ihr war wohl auch bewusst, wie wenig Schutz und Hilfe das durch die Sparmaßnahmen beeinträchtigte griechische Gesundheitssystem versprach.

Doch nach diesem anfänglichen Erfolg wollte die griechische Regierung im Sommer ausländische Touristen anziehen. Sie lockerte Schutzmaßnahmen wie die Test- und Quarantäne­pflicht sowie die Kontaktverfolgung. Als die Griechen am Ende des Sommers aus ihren Ferien zurückkehrten, stellte sich Schritt für Schritt heraus, welche katastrophalen Folgen diese Politik hatte. Ab November 2020 war die Situation außer Kontrolle, mit Hunderten Neuinfektionen täglich und sich häufenden Todesfällen. Das Gesundheitspersonal warnte eindringlich vor einer drohenden Überforderung der Krankenhäuser. Doch obwohl die Regierung durch das Pandemie-Notfallprogramm der EZB einigen fiskalischen Spielraum hatte, weigerte sie sich, das Gesundheitssystem zu stärken. In einem OECD-Bericht, der Gesundheitsausgaben europäischer Ländern im Zuge der Pandemie bei aufführte, stand Griechenland ganz unten.

Stattdessen griff die Regierung auf harte und in vieler Hinsicht irrationale Lockdown-Maßnahmen zurück. So war es verboten, seine Wohnung zu verlassen, ohne vorher per SMS eine staat­liche Erlaubnis einzuholen. Bei Verstößen drohte eine Strafe von 300 Euro – man bedenke: der griechische Mindestlohn liegt bei 520 Euro im Monat. ­Zudem galt eine allgemeine Ausgangssperre ab 21 hr (in Athen nur am ­Wochenende, im Rest des Landes jeden Tag). Auch verlangte die Regierung, dass an allen Arbeitsstätten die Zahl der anwesenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern um die Hälfte reduziert würde.

Doch das Einzige, was funktionierte, war, die Leute nach Feierabend in ihren Wohnungen einzusperren. Der Versuch, die Anwesenheit an den Arbeitsplätzen zu reduzieren, scheiterte, zumindest im Privatsektor, wo es kaum Kontrollen gab. Das Virus verbreitete sich bei der Arbeit und in überfüllten Bussen und Bahnen, dann erreichte es die Haushalte. Im März verzeichnete Griechenland den vorläufigen Hö­hepunkt der Pandemie mit rund 4 00 Neuinfektionen pro Tag. Das Gesundheitssystem stand kurz vor dem Kollaps, die Intensivstationen waren überbelegt. Trotzdem weigerte sich die Regierung, Privatkliniken für die Behandlung von Covid-19-Patienten in die Pflicht zu nehmen, weil dies angeblich zu viel koste.

Repression und Polizeigewalt

Während die Coronakrise wütete, verfolgte die Regierung weiter ihre langfristigen Pläne. Sie begann mit einer umfassenden Hochschulreform, um das, was die Konservativen als sozialdemokratischen Anachronismen betrachten, an der Wurzel zu packen. Die griechische Wirtschaft ist mehr und mehr vom Niedriglohnsektor geprägt und immer weniger in der Lage, die wachsende Anzahl von Akademikern aufzunehmen. Außerdem sind Studentinnen und Studenten besonders stark politisiert (auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern), Universitäten dienen immer wieder als Basis von Protestbewegungen. Die außerparlamen­tarische Linke ist dort sehr präsent, auch Anarchisten und andere radikale Gruppen sind an Universitäten aktiv und unterhalten oft eigene Zentren in besetzten Gebäuden. Immer wenn es zu sozialen Konflikten kommt, wie im Dezember 2008 während der Antiausteritätsbewegung, sind die Universitäten Ausgangspunkt politischer Kämpfe und Unruhen.

Ein neues Gesetz, das Anfang des Jahres verabschiedet wurde, soll diese Zustände beenden. Der Regierung und ihren Anhänger gilt die politische Aktivität an den Universitäten ein Zeichen von Anomie, wie Drogensucht oder Diebstahl. Um dagegen vorzugehen, soll das Gesetz permanente Polizeipräsenz in den Universitäten sowie Kameraüberwachung in den Vorleseräumen etablieren. Das erklärte Ziel ist es, nichtstudentische Gruppen von der Universität fern- und Studierende von Besetzungen oder Protesten abzuhalten.

Nach dem Ende der Diktatur erlassene Gesetze, die Hochschulen vor dem Einsatz der Polizei ohne Zustimmung der Hochschulleitung schützten, wurden abgeschafft. Außerdem soll das neue Gesetz die Zahl der Studierenden stark reduzieren, indem es Zugangskriterien verschärft und die erlaubte Stu­dienzeit reduziert. Schätzungen zufolge soll die Zahl der Studentinnen und Studenten schon nächstes Jahr um 20 00 sinken. Der Zeitpunkt war aus Regierungssicht vorteilhaft gewählt, denn wegen der Pandemie bleiben die Universitäten bis zum September geschlossen. Bis dahin werden die neuen Polizeieinheiten und Überwachungsmechanismen schon etabliert sein.

Ein Großteil der Universitätsangestellten und Lehrkräfte lehnt das Gesetz ab. Sie stört wohl unter anderem, dass die Kosten der permanenten Polizeipräsenz halb so hoch sind wie das Budget der Hochschulen ohne Gehälter. Es ist also davon auszugehen, dass es Konflikte geben wird. Studentinnen und Studenten haben bereits demons­triert und, wo möglich, Universitätsgelände besetzt. Die staatliche Reaktion war bezeichnend: Die Demonstrationen wurden wegen der Pandemie für illegal erklärt, während die Polizei die Besetzungen räumte, wobei sie sich bereits auf das neue Gesetz berief.

Womöglich will die Regierung das weitverbreitete Gefühl der Niederlage seit der Implementierung der Austerität sowie die Abwesenheit einer bedeutenden parlamentarischen Opposi­tion nutzen – Syriza jedenfalls ist eher daran interessiert, sich in eine Partei der Mitte zu verwandeln. Doch im März kam es zu einer Serie kleinerer Demonstrationen zur Unterstützung des Hungerstreiks eines wegen Mordes verurteilten Mitglieds der Terrororganisation »Bewegung 17. November«, ­Dimitris Koufodinas. Dieser wollte die Verlegung in ein Gefängnis mit geringeren Sicherheitsauflagen erreichen. Die Proteste wurden gewaltsam aufgelöst, eine dieser Demonstrationen fand am eingangs erwähnten 6. März statt. Als Reaktion darauf kam es zu größeren Protesten, an denen auch Menschen teilnahmen, die sonst wenig mit solchen Anliegen zu tun haben.

Als sich im März die Situation einer offenen Revolte näherte, war der Auslöser ein anderer, nämlich die Pandemiepolitik. In einem Mittelschichtvorort von Athen hatten Polizisten einer Familie eine Geldstrafe auferlegen wollen, obwohl diese die Erlaubnis hatte, sich draußen aufzuhalten, und sogar Masken trug. Als andere Menschen darauf reagierten, rief die Polizei sofort nach Verstärkung und attackierte jeden, der sich ihr in den Weg stellte. Die Polizisten störten sich nicht daran, dass Passanten sie filmten – ein Indiz dafür, dass sie mit Straflosigkeit rechneten –, und nahmen schließlich elf Menschen fest.

Ein Video, das zeigt, wie ein junger Mann zusammengeschlagen wird, verbreitete sich rasend schnell in den ­sozialen Medien. Das Resultat war zwei Tage später eine Demonstration mit 20 00 Teilnehmern. In den darauffolgenden Krawallen traf die Polizei auf harten Widerstand und wurde mehr oder weniger besiegt. Dies führte zu einer Art staatlich sanktionierter Rache­aktion, bei der Polizisten Menschen aus Geschäften und Wohnungen zerrten, praktisch jeden zusammenschlug, den sie in die Hände bekamen, und so-
gar Journalisten und Fotografen attackierten.

Die Regierung stellte sich zuerst auf die Seite der Polizei. Doch bald wurde klar, dass die Krawalle ein Ausdruck tieferer Unzufriedenheit waren und leicht in eine größere Protestbewegung münden könnten. Womöglich auch mit Blick auf die kommende Tourismussaison entschuldigte sich die Regierung für die Polizeibrutalität und beendete praktisch alle pandemiebedingten Polizeikontrollen. Zum ersten Mal seit ihrem Wahlsieg war die Regierung gezwungen zurückzuweichen.

In den nächsten Monaten ist mit neuen Konflikten zu rechnen, vor allem wenn die Entscheidung, den Lockdown für die Tourismussaison zu beenden, zu einer neuerlichen Ausweitung der Covid-19-Infektionen führen sollte. Vor allem an den Universitäten wird es zweifellos zu weiteren Protesten kommen. Fraglich ist jedoch, ob das die Regierung zwingen wird, ihre Pläne zumindest vorerst aufzugeben.