Nach dem Urteil im Prozess wegen des Todes George Floyds

Viele Tote, ein Urteil

Im Prozess wegen der Tötung von George Floyd ist der US-amerikanische Polizist Derek Chauvin schuldig gesprochen worden. Doch seit Floyds Tod gab es zahlreiche weitere Fälle tödlicher Polizeigewalt. Reformen bei der Polizei sind schwer durchzusetzen.

Vor dem Gerichtsgebäude brach Jubel aus, als das Urteil am 20. April verlesen wurde: Der ehemalige Polizeibeamte Derek Chauvin wurde in allen Anklagepunkten für schuldig befunden, auch im schwerwiegendsten des second-degree unintentional murder an George Floyd; am Tag nach der Tötung Floyds war Chauvin bei der Polizei gefeuert worden. Die Jury kam zu dem Schluss, dass Chauvin ohne Achtung vor dem Leben Floyds dessen Tod durch exzessive Gewaltanwendung verursacht habe, das Strafmaß wird im Juni verkündet. Es ist ein historisches Urteil. Allzu oft warten die Hinterbliebenen der Opfer tödlicher Polizeigewalt vergeblich darauf, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. US-Präsident Joe Biden sagte in einer Fernseh­ansprache, der Schuldspruch sei »ein Schritt nach vorne«.

»Kriminalität von Seiten der Polizei«, so der Kriminologie­professer Philip M. Stinson, »ist größtenteils ein verstecktes Verbrechen«, offizielle Daten seien nicht verfügbar.

Floyd war am 25. Mai vorigen Jahres in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota von vier Polizeibeamten festgenommen worden, weil er verdächtigt wurde, in einem Minimarkt mit einem gefälschten Geldschein bezahlt zu haben. Anfangs widersetzte er sich, er wurde schließlich in Handschellen gelegt und zu Boden gedrückt. Der dienstälteste Beamte, Derek Chauvin, drückte neun Minuten und 23 Sekunden lang sein Knie gegen das Genick des Mannes. 27 Mal sagte Floyd, er könne nicht atmen. Er flehte um sein Leben – umsonst. Unter den Augen­zeugen befand sich die 17jährige Darnella Frazier, die zur Tatzeit zufällig mit ihrer neunjährigen Cousine am Ort des Geschehens war. Sie filmte die Tat mit ihrer Handykamera. Das Video ging um die Welt und löste eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte der USA aus.

Es ist gut möglich, dass es ohne dieses Video keinen Schuldspruch gegeben hätte. »Glauben Sie Ihren Augen«, sagte Staatsanwalt Steven Schleicher bei seinem Schlussplädoyer. Chauvins Anwälte versuchten, die Todesursache in Zweifel zu ziehen, und verwiesen auf Floyds Herzprobleme sowie Spuren von Drogen, die in seinem Körper nachgewiesen worden waren. Doch verschiedene Experten, darunter der Lungenarzt Martin Tobin und der zustän­dige Gerichtsmediziner Andrew Baker, gaben an, dass es Sauerstoffmangel war, der schließlich zum Herzstillstand Floyds führte.

Der Polizeichef von Minneapolis, Medaria Arradondo, sagte im Zeugenstand aus, Chauvins Verhalten sei »in keiner Weise Teil unserer Ausbildung und auf keinen Fall ein Bestandteil unserer Ethik oder unserer Werte«. Dass ein Polizeichef gegen einen seiner eigenen Beamten aussagt, ist ungewöhnlich. Dies war womöglich für die Jury ein ausschlaggebender Moment, denn Schleicher betonte, dass hier ein einzelner Polizist auf der Anklagebank sitze und nicht die Polizei: »Für gute ­Polizisten gibt es nichts Schlimmeres als schlechte Polizisten.«

Als das Urteil verlesen wurde, vergossen Familienangehörige Floyds »Tränen der Freude«, so Philonise Floyd, ein Bruder des Opfers. Er will sich nun für umfassende Polizeireformen einsetzen: »Zu viele Menschen sterben, und es wird einfach unter den Teppich gekehrt. Oft werden die Täter nicht einmal angeklagt.«

Doch Reformen gestalten sich schwierig. Die Regierung in Washington und das Justizministerium haben nur begrenzte Möglichkeiten, in dem dezen­tralisierten System Einfluss zu nehmen, das örtlichen Polizeibehörden große Spielräume lässt. Jamelle Bouie, ein mit der »Black Lives Matter«-Bewegung sympathisierender Kolumnist der New York Times, weist darauf hin, dass die Nervosität der Beamten nicht grundlos ist: »Die USA sind mit Feuerwaffen geradezu überschwemmt, daher fühlen sich Polizisten unter Druck, denn sie wissen, dass jede Polizeikontrolle zu einem Schusswechsel führen könnte.«

Andererseits stellt sich die Frage, welche Polizeikontrollen überhaupt notwendig und berechtigt sind. Der Studie »Policing and Profit« der Harvard University von 2015 zufolge ist es eine gängige Methode US-amerikanischer Kommunalverwaltungen, mit vielen Kontrollen den Haushalt aufzubessern. So sollen bei »Privatpersonen durch Strafverfahren bewusst Kosten verursacht werden«, wie es in dem Text heißt. Teuer werden kann es selbst bei »kleinen Delikten wie dem Missachten eines Stoppschilds«.

Die Geldnot der Kommunen habe noch eine andere Folge: Dem öffentlich-rechtlichen Radiosender NPR zufolge betreffen mindestens 20 Prozent aller Polizeieinsätze Interaktionen mit Menschen mit psychischen Störungen. Vielen Gemeinden fehlen die Mittel, diese Menschen angemessen zu betreuen – oft wird die Polizei gerufen, wenn es Probleme gibt. Recherchen der Washington Post zufolge hat ein Viertel aller Menschen, die seit 2015 von der Polizei getötet wurden, an psychischen Erkrankungen gelitten.

Auch fast ein Jahr nach George Floyds Tod hat sich am Problem der Polizeigewalt kaum etwas geändert. Am 11. April, noch während des Prozesses gegen Chauvin, wurde nur wenige Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt der 20jährige Daunte Wright bei einer Kontrolle von einer Polizistin erschossen, was in Minnesota erneute Proteste auslöste; die Polizistin wurde wegen »Tötung ohne Vorsatz« angeklagt. Philip M. Stinson, Professor der Kriminologie an der Bowling Green State University, legte am 20. April einen umfassenden Bericht über Erschießungen durch die Polizei vor. Die Resultate sind ernüchternd. »Kriminalität von Seiten der Polizei«, so Stinson, »ist größtenteils ein verstecktes Verbrechen«, offizielle Daten seien nicht verfügbar.

Seit 2005 seien weniger als zwei Prozent aller polizeilichen Todesschüsse strafrechtlich geahndet worden. In einem Zeitraum von 17 Jahren wurden nur 140 Polizisten angeklagt, sieben dieser Beamten wurden wegen eines Tötungsdelikts verurteilt. So wurde beispielsweise keine Anklage – angeblich aus Mangel an Beweisen – gegen Daniel Pantaleo erhoben, den Beamten, der 2014 in New York City den 43jährigen Asthmakranken Eric Garner erwürgt hatte. Auch Darren Wilson, der im gleichen Jahr den 18jährigen Michael Brown erschoss, wurde nicht angeklagt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Schwarze sind unter den Opfern deutlich überrepräsentiert: Nach Angaben einer Analyse von 453 Fällen, vorgenommen von der Yale University und der University of Pennsylvania, wurden zwischen 2015 und Mai 2020 Menschen mit dunkler Hautfarbe von der Polizei mit einer »deutlich höheren Rate« als Weiße getötet, nämlich »2,6 Mal so oft«.

»Um echte Veränderungen und Reformen herbeizuführen, können und müssen wir mehr tun«, sagte US-Präsident Biden in seiner Fernsehansprache nach der Urteilsverlesung. Abhilfe soll der George Floyd Justice in Policing Act schaffen, ein Gesetzentwurf zur Polizeireform. Er sieht unter anderem vor, die »qualifizierte Immunität« der Polizeibeamten abzuschaffen, die sie vor Klagen schützt, sofern sie nicht »offensichtlich inkompetent« gehandelt oder willentlich das Gesetz gebrochen haben; zudem soll ein landesweites Register für Beschwerden gegen die Polizei geschaffen und der Würgegriff verboten werden. Anfang März verabschiedete das Repräsentantenhaus den Gesetzentwurf mit einer Mehrheit von 220 zu 212 Stimmen – fast nur mit Stimmen der Demokraten –, doch im Senat wird die Abstimmung bislang blockiert.

Die US-Rechte stellt sich gegen die »Black Lives Matter«-Bewegung. Web­sites wie Breitbart kritisierten das Urteil gegen Chauvin scharf. Der Fox-News-Moderator Tucker Carlson behauptete in seiner Sendung am 20. April, die Jury habe Chauvin »nach fast einem Jahr der Brände, des Plünderns und der Morde« nur aus Angst vor Unruhen schuldig gesprochen. Die Republikaner folgen der Stimmung ihrer Wählerschaft. Elf Monate nach Floyds Tod hat die Unterstützung für die »Black Lives Matter«-Bewegung in der Gesellschaft abgenommen. Einer Umfrage von USA Today und Ipsos vom März zufolge vertrauen 69 Prozent der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner der Polizei. Im Juni vergangenen Jahres waren es nur 56 Prozent. Daher ist fraglich, ob es Mehrheiten für die notwendigen Refor­men gibt.