08.04.2021
Nachkommen von unter dem ­NS-Regime Ausgebürgerten sollen einfacher die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen können

Späte Wiederaufnahme

Ein deutscher Pass war für die Nachkommen von NS-Verfolgten bislang schwer zu bekommen. Das soll sich bald ändern.

Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes, denen zwischen 1933 und 1945 »aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen« die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde, haben ­gemäß Artikel 116 des Grundgesetzes An­spruch auf eine Einbürgerung in Deutschland. Dies gilt auch für ihre Nachkommen. In vielen Fällen konn­te dieser Anspruch bisher jedoch nicht durchgesetzt werden. So haben Nachkommen von Verfolgten 2017 und 2018 fast 10 00 Anträge auf Einbürgerung nach Artikel 116 gestellt, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hervorgeht. Nur 3 00 Anträge wur­den bewilligt. Mit einem am 24. März vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes soll sich das ändern. »Das ist keine bloße Wiedergutmachung, sondern Entschuldigung in tiefer Scham«, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) über den Entwurf.

Noch vor kurzem war von einer solchen Scham allerdings wenig zu spüren. Vielmehr mussten Betroffene lange für die nun angestrebten Änderungen kämpfen. In den fünfziger und sechziger Jahren etablierte sich unter den zuständigen Beamtinnen und Beamten, von denen viele schon im Nationalsozialismus an ähnlichen Stellen gearbeitet hatten, eine restriktive Auslegung des Artikels. Diese wurde über Jahrzehnte beibehalten. So wurden Personen ausgeschlossen, die zwar aus Deutschland geflohen waren, ihre Staatsangehörigkeit aber bereits ­vor den Massenausbürgerungen 1941 durch die Annahme eines anderen Passes verloren hatten. Ebenso galt die Regelung nicht für uneheliche Kinder und jene, deren Mütter Deutsche waren und die vor dem 1. April 1953 geboren wurden, denn Mütter allein konnten die Staatsangehörigkeit bis dahin juristisch nicht weitergeben.

Ein Beispiel für diese restriktive Auslegung ist der Fall von Judith Rhodes. Ihre Mutter Ursula Michel war mit einem Kindertransport nach England gekommen; Ende der Dreißiger Jahre nahm Großbritannien einige Tausend jüdischer Kinder aus Deutschland auf. Rhodes lebt in England und engagiert sich in Ludwigshafen am Rhein (Rheinland-Pfalz), dem ehemaligen Wohnort ihrer Mutter, in Bildungsprojekten. Um dies nach dem dem Austritt Großbritanniens aus der EU ohne Schwierigkeiten fortsetzen zu können, hatte sie die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass zum Zeitpunkt ihrer Geburt die Staatsangehörigkeit nur über den Vater weitergeben werden konnte.

In den fünfziger und sechziger Jahren etablierte sich unter den zuständigen Beamten eine restriktive Ausle­gung des Grund­gesetz­artikels 116.

In Erwartung des britischen EU-Austritts, der zu einer steigenden Zahl an Anträgen führte, gründet sich 2018 die »Article 116 Exclusions Group« in London, um die Interessen von Betroffen besser vertreten zu können. Die Grup­pe wendet sich gegen die restriktive Auslegung des Artikels, da dies gegen den Geist des Grundgesetzes verstoße und einer Wiedergutmachung im Wege stehe. Nachdem verschiedene Betroffenenorganisationen Druck gemacht hatten, verfügte das Innenministerium im Sommer des vergangenen Jahres schließlich mehrere Erlasse, um Einbürgerungen zu erleichtern. Felix Couchman, ­einem Mitgründer der Article 116 Exclusions Group, ging dies nicht weit genug. Der BBC sagte er: »Das ist ein Ermessensspielraum, um den man betteln muss. Was wir wollen, ist unser verfassungsmäßiges Recht nach Artikel 116.« Der Zentralrat der Juden in Deutschland nannte die Erlasse »unzureichend«. Judith Rhodes beispielsweise hätte für einen erfolgreichen Antrag einen Sprach- und Einbürgerungstest machen müssen.

Die Regierungsparteien argumentierten hingegen, dass die Erlasse ausreichen müssten, und blockierten noch in einer zum Thema anberaumten Bundestagsdebatte Anfang 2020 die Ver­abschiedung eines Gesetzes. Im Juni 2020 erklärte dann das Bundesverfassungsgericht die langjährige Praxis deutscher Behörden bei der Auslegung des Artikels 116 für verfassungswidrig. Geklagt hatte eine Frau, deren Antrag abgelehnt worden war, weil sie als uneheliches Kind geboren worden war. Das Gericht stellte klar, dass der Artikel der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts diene, was einer »einengenden Auslegung« grundsätzlich entgegenstehe.

Der nun verabschiedete Gesetzentwurf kam also erst auf großen Druck hin zustande. Auch der Zentralrat der Juden hatte sich intensiv für einen gesetzlichen Anspruch auf ein Einbürgerung nach Artikel 116 eingesetzt. Dessen Präsident Josef Schuster bezeichnet den Entwurf als eine »Geste des Anstands«. Wie so vieles in der deutschen Aufarbeitungspolitik kommt diese nicht freiwillig und viel zu spät.