Die EU-Grenzschutz­agentur Frontex gerät stärker unter Druck

Jenseits der Grenzen des Rechts

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex gerät immer stärker unter Druck. Es mehren sich die Belege dafür, dass sie illegale Pushbacks von Asylsuchenden zumindest geduldet hat.

Eines der Vorzeigeprojekte der EU-Kommission unter der Präsidentschaft von Ursula von der Leyen soll er sein, der Ausbau der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, kurz Frontex. Er soll dazu beitragen, dass sich entlang der EU-Außengrenzen Szenen wie während der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 nicht wiederholen. Bereits als von der Leyen sich im Juli 2019 vor dem EU-Parlament um ihr Amt bewarb, stellte sie ein »einsatzbereites Korps« von 10 000 Grenzschützern spätestens für 2024 in Aussicht. Im »neuen Migrations- und Asylpaket«, das die Kommission im September vergangenen Jahres vorstellte, kommt Frontex ebenfalls eine Schlüsselrolle zu, allerdings weniger beim Grenzschutz als vielmehr bei Abschiebungen: »Die Entwicklung von Frontex zum operativen Arm der EU-Rückkehrpolitik sollte ein vorrangiges Anliegen darstellen«, heißt es in dem entsprechenden Papier.

Seit einigen Monaten jedoch wird Frontex für die EU-Kommission zu einem Problem. Wie Anfang Januar bekannt wurde, hat das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) Ermittlungen gegen die Agentur aufgenommen und nach Informationen der griechischen Zeitung I Kathimerini bereits am 7. Dezember 2020 die Büros des Geschäftsführers von Frontex, Fabrice Leggeri, und seines Kabinettschefs Thibauld de La Haye Jousselin durchsucht. Dies steht in Zusammenhang mit Vorwürfen gegen Frontex, über illegale Zurückweisungen von Asylsuchenden entlang der EU-Außengrenze, sogenannte Pushbacks, informiert oder gar an ihnen beteiligt gewesen zu sein. Das OLAF bestätigte offiziell die Ermittlungen, schwieg sich über die Gründe jedoch aus.

»Frontex setzt einen politischen Willen an den EU-­Außengrenzen um, den viele Mitgliedsstaaten auch recht offen artikulieren.« Erik Marquardt (Die Grünen), Abgeordneter im Europaparlament

Anschuldigungen, dass Frontex bei Pushbacks mitmische, werden seit langem immer wieder erhoben. Im Oktober vergangenen Jahres präsentierte ein journalistisches Netzwerk um den Spiegel, ARD und das Recherchenetzwerk Bellingcat zahlreiche Belege, die den Druck auf Frontex erhöhten. So sollen beispielsweise am 28. April 2020 knapp zwei Dutzend Flüchtlinge, die bereits die griechische Insel Samos erreicht hatten, von der dortigen Küstenwache auf einem Gummifloß ausgesetzt und in Richtung der türkischen Küste abgedrängt worden sein. Ein Frontex-Flugzeug habe all dies überwacht. Fünf solcher Vorfälle sollen in den folgenden Monaten allein vor der Insel Lesbos dokumentiert worden sein. Dem Jahresbericht der norwegischen NGO Aegean Boat Report zu­folge gab es 2020 im Ägäischen Meer insgesamt 324 Pushbacks.

Auf diese Berichte hin hatte die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly im November eine offizielle Untersuchung gegen Frontex eingeleitet, um den internen Umgang mit solchen Vorwürfen zu überprüfen. Zudem setzte auf Druck der zuständigen EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, der Verwaltungsrat der Agentur eine Arbeitsgruppe ein, die einer etwaigen Beteiligung von Frontex-Beamten an Pushbacks und anderen Grundrechtsverstößen nachgehen soll. Statt der ursprünglich für vorvergangene Woche angekündigten Bilanz gab es bislang allerdings nur einen Zwischenbericht.

Der Verwaltungsrat sei »sehr besorgt«, denn Frontex habe nicht alle geforderten Informationen über die von der Arbeitsgruppe benannten Vorfälle rechtzeitig geliefert, so das Kontrollgremium, dem neben zwei Vertretern der EU-Kommission auch Repräsentanten der Grenzschutzbehörden aller Mitgliedsstaaten angehören. Man habe daher noch nicht alle strittigen Fälle abschließend beurteilen können. Dennoch sah man die Frontex-Beamten bei immerhin acht Vorkommnissen entlastet. Dem Spiegel zufolge, der sich auf einen internen Bericht der Arbeitsgruppe bezieht, habe sich diese bei ihrem Urteil jedoch »auf die wenig glaubwürdigen Ausflüchte der griechischen Küstenwache« und die »lückenhaften Informationen« von Frontex selbst verlassen.

Ungeduldig zeigte sich der Verwaltungsrat vor allem mit Fabrice Leggeri. Unmissverständlich wurde dieser »eingeladen«, fehlende Informationen »unverzüglich nachzureichen« und einen ganzen Katalog an Empfehlungen zum Umgang mit mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen zu verwirklichen.

Keine Geduld mehr mit dem Franzosen haben inzwischen viele Abgeordnete des Europaparlaments; spätestens seit er Anfang Dezember vor dem dortigen Innenausschuss Rede und Antwort stand. Ungeachtet aller Berichte hatte sich Leggeri darauf versteift, für eine Beteiligung von Frontex an Pushbacks gebe es keine Beweise. Die Fraktion der Sozialdemokraten forderte ihn noch am selben Tag zum Rücktritt auf; man habe jedes Vertrauen in den Frontex-Geschäftsführer verloren. Auch vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags wusste er Mitte Januar nicht zu überzeugen: »Die Nachweise zu illegalen Zurückweisungen von Schutzsuchenden in der griechischen Ägäis sind erdrückend«, zitierte die Frankfurter Rundschau Ulla Jelpke von der Partei »Die Linke«. Ähnlich deutlich äußerten sich Politiker von Grünen und SPD.

Nachdem Kritik an Leggeri und Rücktrittsforderungen immer lauter wurden, wird nun eine sogenannte Arbeitsgruppe des Europaparlaments eingerichtet, die unter anderem die Achtung der Menschenrechte durch Frontex überprüfen soll. Einen formalen Untersuchungsausschuss wird es aber nicht geben. Einige Abgeordnete des Europaparlaments hatten dies gefordert, um auch die Verantwortlichen hinter Frontex – die Europäische Kommission sowie die Mitgliedsstaaten – miteinbeziehen zu können. »Es ist es ja nicht primär die Verfehlung einer einzelnen Person, die wir beobachten, sondern es handelt sich um ein systematisches Problem«, so der deutsche Europaabgeordnete Erik Marquardt (Grüne) vor der jetzigen Entscheidung im Gespräch mit der Jungle World. »Frontex agiert nicht losgelöst von der Politik, sondern setzt im Grunde einen politischen Willen an den EU-Außengrenzen um, den viele Mitgliedsstaaten auch recht offen artikulieren.«

Ebenso wie beispielsweise die Zustände in den Flüchtlingslagern auf Lesbos und anderen Ägais-Inseln ist auch die Frontex angelastete Praxis letztlich Teil eines politischen Kalküls. »Pushbacks sind derzeit die dominierende Strategie Griechenlands, um irreguläre Migration in der Ägäis zu stoppen«, sagte Gerald Knaus, ein prominenter Berater der deutschen Bundesregierung in migrationspolitischen Fragen, im November im Deutschlandfunk. »Und natürlich muss es bei Frontex (…) da interne Berichte geben, das kann gar nicht anders sein, sonst würde sie ihre Aufgabe nicht erfüllen.«

Die Möglichkeiten, Frontex institutionell zu kontrollieren, sind allerdings beschränkt, denn juristisch betrachtet handelt es sich nicht um eine EU-Institution, sondern um eine »Agentur«, die zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten angesiedelt ist und auf der Grundlage von EU-Recht agiert. Obwohl Frontex dafür verantwortlich sei, die Politik der Kommission auszuführen, besitze es als eigenständige Agentur »viel Handlungsspielraum«, so Clemens Binder vom Österreichischen Institut für Internationale Politik in einem Interview mit dem österreichischen Wochenmagazin News.

Immerhin sah sich die EU-Grenzschutzagentur am Mittwoch voriger Woche gezwungen, ihr Personal von der ungarischen Grenze zu Serbien abzuziehen. Der Europäische Gerichtshof hatte Mitte Dezember geurteilt, dass Ungarn gegen das Asylrecht der EU verstößt. Ungeachtet dessen hielt das Land an seiner Praxis fest. Das Ungarische Helsinki-Komitee, eine NGO mit Sitz in Budapest, hatte Anfang Januar berichtet, dass dort Tausende von Pushbacks stattfänden, vor denen Fron­tex-Beamte »die Augen verschließen«.

Bis zum 19. Februar muss Leggeri nun über die Erfüllung eines ganzen Katalogs von Forderungen seitens des Verwaltungsrats berichten, darunter die seit langem geplante personelle Aufstockung des internen Büros für Menschenrechtsfragen. Insgesamt 40 neue Stellen wurden dafür geschaffen. Deren Besetzung habe Leggeri jedoch aktiv hintertrieben, berichtete die Zeitung I Kathimerini unter Berufung auf einen Mitarbeiter der Behörde. Der Abschlussbericht der vom Frontex-Verwaltungsrat beauftragten Arbeitsgruppe wird bis zum 26. Februar erwartet.

Unterdessen will auch die EU-Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly über weitere Schritte entscheiden, sobald die von Frontex für Ende Januar eingeforderten Antworten auf einen Fragenkatalog analysiert und bewertet sind. Zum Stand der Ermittlungen des OLAF wurde bislang nichts bekannt.