Die Diskussion über den Shutdown großer Bereiche der Wirtschaft

Feierabend für das Virus

Ist wegen der Entwicklung der Covid-19-Pandemie ein umfangreicher Shutdown der Wirtschaft nötig? Diese Frage wird zurzeit von Poli­tikern und in der Öffentlichkeit heiß diskutiert.

Light, hart oder mega – wie viel Lockdown darf es sein? Das ist die Frage, die seit dem Herbst Politikbetrieb und ­Medien, Wissenschaft und Wirtschaft umtreibt. Vor dem Hintergrund dau­erhaft hoher Infektions- und Todeszahlen und neuer Virusmutationen, einschließlich einer Variante, die bis zu 70 Prozent ansteckender sein soll als die ursprüngliche, hat sich die Debatte mit Beginn des neuen Jahres noch verschärft. Der »Lockdown light«, der offenbar in allzu vielen Köpfen den alten Werbeslogan eines Herstellers fettreduzierter Margarine (»Ich will so bleiben, wie ich bin. – Du darfst!«) erklingen ließ, wurde in mehreren Runden mittels weitgehender Schließung von Geschäften und Schulen zu einem »harten Lockdown« – so jedenfalls die gängige Bezeichnung bei den meisten Medien.

Wie hart dieser Lockdown bisher tatsächlich war, zeigt sich jeden Morgen, wenn dieselben Menschen, die in ihrer Freizeit nur noch eine haushaltsfremde Person treffen dürfen, in vollen Bussen und Bahnen zu den Fabriken und Büros fahren, um dort einem von der Covid-19-Pandemie kaum eingeschränkten Arbeitsalltag ausgesetzt zu sein. Die Infektionszahlen gingen nicht signifikant zurück, was zu weitgehender Einigkeit beim politischen Führungspersonal führte, den »harten Lockdown« sowohl verlängern als auch irgendwie verschärfen zu müssen.

Selbst wenn alle Büroarbeit wider Erwarten tatsächlich ins Homeoffice verlegt würde, ist das für viele andere Tätigkeiten in Industrie, Logistik und Großhandel nicht möglich.

Als erster hochrangiger Politiker hatte sich daher Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) bereits am 8.Januar dafür ausgesprochen, »alles, was nicht lebensnotwendig ist oder systemisch nicht abgestellt werden kann«, in eine Zwangspause zu schicken, denn: »Es kann doch nicht sein, dass drei Menschen in einem öffentlichen Park ein gesellschaftlicher Skandal sind und 300 Menschen in einer Fleischfabrik Privatangelegenheit.« Diese Ansicht teilte unter anderem sein Parteikollege, der Berliner Kultursenator und Bürgermeister Klaus Lederer. Eine Woche später nahm sogar der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, die Forderung auf: »Wir sollten uns die Frage stellen, ob letztlich nicht ein kompletter Lockdown von zwei bis drei Wochen besser ist als eine endlose Hängepartie.«

»Kommt jetzt der Mega-Lockdown?« titelte daraufhin Bild, das Blatt der vielen Superlative, und Rainer Dulger, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), verkündete sicherheitshalber schon mal: »Das ist doch absurd. Sie können doch nicht alle Betriebe schließen.« China, Australien und Neuseeland haben das allerdings getan – und die Pandemie so weitgehend unter Kontrolle bekommen.

In Deutschland hingegen steht derlei nicht zu erwarten, wie der gemeinsame Appell für mehr Homeoffice von Dulger, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann wenige Tage später belegte. Auch der Vorschlag des Bundeskanzleramts, Einschränkungen im Nahverkehr zu prüfen, wies in diese Richtung: Irgendwie sollen die Firmen dazu gebracht werden, mehr Heimarbeit zu ermöglichen, ohne ihnen verbindliche Vorschriften zu machen.

In der derzeitigen Lage mag jede Maßnahme sinnvoll sein, die noch einige Kontakte mehr verhindert. Doch bloße Appelle verpuffen. Selbst wenn alle ­Büroarbeit wider Erwarten tatsächlich ins Homeoffice verlegt würde, ist das für viele andere Tätigkeiten in Industrie, Logistik und Großhandel nicht möglich.

Die in der vergangenen Woche begonnene Kampagne »Zero Covid« fordert daher »einen solidarischen europäischen Shutdown« für alle nicht lebensrelevanten Bereiche der Wirtschaft. Der von mehr als 300 Personen aus den Medien, der Kultur, Bildung, Wissenschaft, Politik und dem Gesundheitsbereich in Deutschland, Österreich und der Schweiz erstun­terzeichnete Aufruf spricht sich darüber hinaus für die Abkehr von der Strategie flatten the curve aus, die die Ausbreitung des Virus lediglich verlangsamen will. Er plädiert stattdessen für das Ziel, die Zahl der Ansteckungen auf null zu drücken. Zudem sollen der Gesundheits- und Pflegebereich ausgebaut und die Patente auf Impfstoffe ausgesetzt werden, womit das Papier auch gleich einen Weg zur schnelleren Durchimpfung weist, der der Haltung »Wir werden lernen müssen, das Virus in unseren Alltag zu integrieren« widerspricht, das der von wirtschaftsliberaler Seite so gern zitierte Virologe Hendrik Streeck verbreitet. Zur Finanzierung des Shutdowns und der nötigen sozialen Maßnahmen sollen europaweite Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne und Finanztransaktionen erhoben werden.

Die Gegenseite reagierte prompt. Streeck meinte, daran erinnern zu müssen, dass es auch auf diesem Wege nicht möglich sei, »alle zwischenmenschlichen Kontakte absolut zu minimieren«, was allerdings im Aufruf auch nicht behauptet wird. Auf Twitter bezeichnete der Chefredakteur der Welt, Ulf Poschardt, die Kampagne als »die nächste sozialistische Fingerübung jener Milieus, die außer Freiheitsentzug, Verstaatlichung und Enteignung nichts zu bieten haben«. Der Taz-Redakteur Thomas Gerlach sah eine »halbtotalitäre Phantasie« am Werk.

Dabei ist es letztlich gleichgültig, ob der strategische Ansatz von »Zero Covid« mit antikapitalistischen oder zumindest reformistischen Hoffnungen für die Zeit nach der Pandemie verknüpft wird oder nicht. Allein beim Blick auf etwa 1 000 Tote am Tag sollte jedem klar sein, dass es kein »Weiter so« geben darf. Sogar aus kapitalistischer Perspektive lässt sich fragen, ob ein radikaler Ausweg aus der Krise der Wirtschaft nicht besser täte, als zugunsten kurzfristiger Profitinteressen eine dauerhaft hohe Zahl an Neuinfektionen und die damit unvermeidlich verbundenen Einschränkungen in Kauf zu nehmen. ­Dalia Marin beispielsweise, Professorin für Interna­tionale Wirtschaftsbeziehungen an der Technischen Universität München, sagt, Fabriken zu schließen hätte »den Vorteil, die Infektionszahlen exponentiell zu ­senken«. Lars Feld, der Vorsitzende des Sachverstän­digenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der landläufig auch als »Rat der Wirtschaftsweisen« bezeichnet wird, warnt hingegen Bund und Länder vor einem »Problem für die Versorgungslage der Bevölkerung«, etwas nebulös begründet mit »stark ausdifferenzierten Lieferketten«.

Kritik am Aufruf gibt es jedoch auch von links. »Statt den Diskurs des me­dizinischen Totalitarismus aktiv zu bekämpfen, wird die ›solidarische‹ Gefängnisgesellschaft gefordert«, heißt es in einem mit »Amore Anarchia Autonomia« gezeichneten Beitrag auf Indymedia, der in manchen Passagen sogar Ulf Poschardt gefallen könnte. Und in den sozialen Medien wird bemängelt, dass die Kampagne auf die Autorität des Staats vertraue und nicht auf die linke Alternative dazu, den Generalstreik.

Was hingegen fehlt, ist eine eher praktische Kritik: Welche Maßnahmen bräuchte es für welche Dauer, um die Zahl der Neuinfektionen tatsächlich annähernd auf null zu senken? Wer soll diese Maßnahmen, die ja europaweit ergriffen werden sollen, konzipieren und durchsetzen und, wenn das Ziel einmal erreicht wäre, dafür sorgen, dass es so bleibt? Dieselben Behörden, die nach elf Monaten Pandemie immer noch nicht in der Lage sind, ihren Mitarbeitern Homeoffice zu ermöglichen, funktionierende Hotlines aufzubauen oder auch nur die Einhaltung der Maskenpflicht zu kontrollieren? Dieselben Gesundheitsämter, die bereits im Sommer den Überblick über die Infektionsketten verloren haben und nun, drei Wochen nach Weihnachten, noch immer keine verlässlichen Zahlen liefern können? Der Gesundheitsminister gar, der bislang von der Masken- über die PCR-Test- bis zur Impfstoffbeschaffung an allen Aufgaben vollständig gescheitert ist? Die Ministerpräsidenten, die noch jeden vernünftigen Vorschlag aus dem Kanzleramt so lange zerredet haben, bis die Entwicklung der Pandemie sie an die Tatsachen erinnern musste? Die EU, die sich nicht einmal auf ein System für die Verteilung von Flüchtlingen einigen kann?

Selbst wenn die Virusmutation B.1.1.7 die weitgehende Stilllegung der Wirtschaft in Kürze unausweichlich machen sollte, wäre damit nichts gewonnen. Zugleich müsste alles daran gesetzt werden, bis zum Sommer einen Großteil der Bevölkerung zu impfen. Passiert das nicht, dürfte es, selbst wenn ein Shutdown gelingt, zu noch weitaus schlimmeren Verhältnissen kommen.