Der DJ als Resultat musikalischer Rationalisierung

Die Muzak des Neoliberalismus

Kritische Anmerkungen zum Siegeszug elektronischer Tanzmusik.
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Wenn man am Berliner S- und U-Bahnhof Warschauer Straße aussteigt und sich in Richtung Friedrichshain hält, dann stößt man auf ein Gelände, das einst ein Reichsbahnausbesserungswerk, kurz RAW, beherbergte. Das weitläufige Areal bietet heutzu­tage die übliche Mischung von Naturkostläden, Tanzclubs und Coworking-Büros, die das Zusammenwirken von sogenannter Kreativwirtschaft und Immobilienmarkt an ehemaligen Industriestandorten eben so hervorbringt. Interessanter ist da die sicherlich einen Kilometer lange Mauer, die sich um das ehemalige RAW zieht und die vermutlich meistgenutzte Plakatierfläche Berlins darstellt. Es handelt sich um eine Art genreneutralen Open-Air-Almanach populärer Musikveranstaltungen, der mit Kleister und Quast ununterbrochen aktualisiert wird. Nicht nur Konzerte sind hier angekündigt, sondern auch Tanzveranstaltungen, deren Plakate sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen: Die einen werben mit dem präsentierten Musikgenre, gleich ob es nun um Soul oder Metal geht, mit Fotos verblichener oder noch aktiver Größen, von Bon Scott bis Rihanna; die Namen der DJs, wenn sie überhaupt auftauchen, sind klein­gedruckt. Die andere Sorte Plakat verrät nicht viel über die zu erwartende Musik, die Künstlernamen der DJs aber sind fett gedruckt, dahinter kleiner der Floor und die Uhrzeit; wenn überhaupt folgen am Ende dann in Klammern und im magersten Schrifttyp Stilangaben wie beispielsweise Trance, Hardcore oder Gabber samt aller möglichen Substile (die sich voneinander in der erwartbaren Rate von Schlägen je Minute unterscheiden, in einem Bereich von etwa 140 bis über 200) – unschwer zu erkennen, dass hier on demand erzeugte elektronische Tanzmusik beworben wird.

Der lange Prozess der Rationalisierung veränderte auch das Tanzen: Das Ende des Paar- oder gar Gruppentanzes bahnte sich bereits Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Hatte der Alleintanz damals als Ausbruch aus als beengend empfundenen, nicht zuletzt auch tanzmusikalischen Konventionen begonnen, findet er sich nunmehr auf den körperlichen Ausdruck von allseitiger Konkurrenz und individueller Mobilisierung festgelegt.

Es täuscht sich, wer glaubt, dass sich dabei dem DJ als Musikerzeuger ganz neue schöpferische Möglichkeiten eröffneten, im Vergleich zur Tätigkeit des konventionellen DJ als Präsentator von Musikstücken anderer: Die vom DJ zwar lediglich abgespielte vorproduzierte Musik führt im Unterschied zur elektronischen ad hoc-Produktion ein Eigenleben, abseits des Clubs und unabhängig vom Zuschnitt auf unterstellte Tanzbedürfnisse; auch die Erstgenannte stimuliert zumeist motorisch, erschöpft sich im Normalfall und insbesondere bei älteren Produktionen aber nicht darin; man kann sie auch bloß hören, in andere Kontexte übertragen als die der Tanzfläche oder der mentalen Einstimmung auf diese, ihr andere, ob nun schlichte oder hintersinnige Bedeutungen abgewinnen, ohne dass sie deshalb notwendigerweise eines Textes bedürften.

Einen Zwitter zwischen diesen beiden Typen populärer Musik zum Tanzen, oder besser gesagt: den Ursprung der zeitgenössischen elektronischen Tanzmusik stellen die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre aufkommenden Maxi-Singles dar, die einen zeitlich ausgedehnten Tanz-Mix von Disco-Hits beinhalteten, ohne dem Stück irgendein nennenswertes musikalisches Ereignis hin­zuzufügen oder ein solches zu vertiefen; prominent zu nennen wäre etwa die 1976 veröffentlichte Langversion von Donna Summers und Giorgio Moroders Stöhnhymne »I Feel Love«. An den metropolitanen Koks-Glamour, der solchen einst kostspieligen Produktionen anhaftete, war jedoch in den Krisengebieten der einsetzenden Deindustrialisierung wie Detroit und Chicago nicht zu denken: Hier mussten billige Musik und Drogen her. House entstand als »disco on the budget«, eine griffige Definition, die Mel Cheren, Betreiber des Gay-Tanztempels Paradise Garage in New York, zugeschrieben wird: Keine Lizenzgebühren, keine Abhängigkeit vom Nachschub durch die Musikindustrie; die für wenige Dollar zu erwerbenden TB-303 Analogsynthesizer und Rhythmusmaschinen vom Typ TR 909, beide aus dem Hause Roland, hielten zusammen mit einem Dienstleister, der sie einigermaßen sachkundig bediente, Läden wie das Ware­house in Chicago am Laufen – und um derartige, damals noch ungewohnte Repetitivität sogar genießen zu können, halfen überaus preisgünstig herstellbare synthetische Drogen auf MDMA-Basis.

Der folgende Siegeszug dieser Sorte Nachtleben mit Schwerpunkten in Frankfurt am Main und dem Berlin der Nachwendezeit ist allseits bekannt und wird allenthalben glorifiziert, besonders in Deutschland, wo Feuilleton und Kulturbetrieb die historisch begründete popkulturelle Misere mit Euro-Disco und Techno (anfangs gerne Tekkno geschrieben) endgültig überwunden sehen wollen. Von diesem besonderen deutschen Interesse abgesehen, gehört es allgemein zum ideologischen Wesen des Neoliberalismus, seine Zumutungen als kreativ zu meisternde Herausforderungen zu verkaufen, Prekarität als Freiheit, Marginalität als Berufung und, im Falle der Tanzmusik, den Notbehelf aus dem postindustriellen Krisengebiet als Glücksfall des Emanzipationsgeschehens – es gilt keine andere Geschichte mehr als die dieser Zumutungen, wer daran herummäkelt, ist Kulturpessimist.

Wenn man diesen fast schon reflexhaft erfolgenden Anwurf nicht fürchtet, ist die Parallelentwicklung von ökonomischer und musikalischer Austerität, die in den vergangenen Jahrzehnten statthatte, kaum zu übersehen – und betrifft sowohl die musikalischen Produktionsverhältnisse als auch das Produkt selber. Dieses reduziert sich in der elektronischen Tanzmusik auf eine nur auf den sofortigen Effekt zielende und zugeschnittene Gebrauchsmusik. Wiewohl sie sozusagen ohne Lagerhaltung, am Ort des Bedarfs in lean production hergestellt wird, muss sie durch diese totale Zweckbestimmung, diese vollendete Heteronomie als Abkömmling der Muzak gelten, jener Gebrauchsmusik, die das gleichnamige US-Unternehmen seit den späten dreißiger Jahren zur Beschallung von Geschäften, Hotels und Warteräumen entwickelte und produzierte: Auch hier zählte allein der messbare Effekt, die Steigerung der Verweildauer, die Kaufstimulation oder die Nervositätsreduktion; musikalische Normabweichung, die von diesem Ziel ablenkte, galt es zu eliminieren. Setzt man semisportliche Aktivierung als absolutes Ziel, ist Techno die Muzak individueller Mobilität: emanzipiert von jeglicher Autonomie, dem Werkcharakter, der dem komponierten Musikstück notwendig innewohnt (gleich ob im Klavierzimmer oder auf einer Holzveranda in Loui­siana komponiert wurde), und in dieser negativen Emanzipation nächstverwandt den genau abgestimmten und nur unmerklich variierenden Hitmontagen des Formatradios, der Beschallung in der Warteschleife beim Anruf im Callcenter oder dem vorweihnachtlichen Klangteppich in der Ladenpassage.

Doch tut man mit dieser Parallele der klassischen Muzak, der »music for airports«, die Brian Eno zur Erfindung von Ambient inspirierte, auch unrecht. Der Muzak haftete noch eine Spur gesellschaftlich Produziertseins an: Sie verlangte eine gewisse Virtu­osität der Produzierenden, das Zusammenwirken eines Klangkörpers, dessen Resultat wiederum die Komplexität, die in ihr reduziert wurde, noch erahnen ließ, den Konsumenten von Ferne noch an die Eigengesetzlichkeit des Musikalischen und die Eigenwilligkeit des Musikers erinnerte.

Das liegt elektronischer Tanzmusik fern, denn dazu erweist sie sich zu eindeutig als ästhetische Ausdrucksform eines schier unaufhaltsamen Rationalisierungsprozesses. Die Geschichte der populären Musik, wie sie im 19. Jahrhundert ihren Ausgang in den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich nimmt, war lange aufs Engste verwoben mit den Prozessen gesellschaftlicher Kooperation, dem handwerklichen und später industriellem Arbeitsprozess: Das Ensemble und – mit Beginn der elektrischen Verstärkung – die Band vertonten kollektive Erfahrungen und bildeten in sich das arbeitende Kollektiv nach. Hauscombos gehörten zu jedem Tanzlokal, waren Boden einer, wenn man so will, Massen­virtuosität; das Publikum wiederum aß, trank, plauderte und tanzte an ­einem Ort. Die Schallplatte und die immense Verbesserung und Verkleinerung des Schallequipments beendeten diese Tradition allmählich, der in Deutschland zunächst so genannte Plattenunterhalter machte die Barmusiker überflüssig: Er hantierte bereits allein an der Maschinerie, allerdings mit Tonträgern, die immer noch im kooperativen Verfahren hergestellte Musik speicherten. Beim Übergang zum House ­verschwand dann auch diese zugunsten der synthetischen Klang-Bricolage eines Einzelnen, des produzierenden DJ – eine Revolution vor allem in der Hinsicht, dass dessen Produktionen einmalig und doch austauschbar sind, individuell, aber dennoch beliebig.

Der lange Prozess der Rationalisierung veränderte auch das Tanzen: Das Ende des Paar- oder gar Gruppentanzes bahnte sich bereits Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Hatte der Alleintanz damals als Ausbruch aus beengend empfundenen, nicht zuletzt auch tanzmusikalischen Konventionen begonnen, findet er sich nunmehr auf den körperlichen Ausdruck von allseitiger Konkurrenz und individu­eller Mobilisierung festgelegt – wenn irgendwo die »einsame Masse« Gestalt angenommen hat, die der US-amerikanische Soziologe David Riesman beschrieben hat, dann auf dem Dancefloor.

Der live produzierende DJ bildet, jetzt schon absehbar, wohl erst die vorletzte Stufe der musikalischen Rationalisierung; seine Tätigkeit, also die Apparate zu bedienen, um reduzierte Klänge und schnellpulsige Rhythmen nach Bedarf einzusteuern und über lange Zeiträume in extrem repetitiven 4/4-Arrangements minimal zu variieren, ruft geradezu nach dem Einsatz künstlicher Intelligenz. Sie würde perfekt einlösen, was der einsame Ausdauertanz ohnehin beschwört. Er wirkt wie ein posthumanistisches Ritual mimetischer Angleichung der körperlichen Bewegung an das nahezu abnutzungslose, von mechanischer Reibung weitgehend befreite digitale Prozessieren. Die Tänzer eifern einer Apparatur nach, die ihrer nicht einmal mehr in der subalternen Weise bedarf, wie noch die Maschinen des industriellen Zeitalters der Arbeiter bedurften.