»Wie ich Sozialistin wurde? Durch Lesen.«
»Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für das Auge unsichtbar.« Die Christen, Spiritualisten und Anthroposophen, die dieses Zitat von Antoine de Saint-Exupéry gerne vor sich hertragen, hegen nicht selten auch eine merkwürdige Obsession für die taubblinde Schriftstellerin Helen Keller. Geht es im Zitat bloß um den vorurteilsfreien Blick des kleinen Prinzen, bekommt der Satz in Zusammenhang mit Helen Keller ein Gschmäckle von spiritueller Erweckung, obwohl dies vollkommen unangemessen ist. Mit Religion hatte Keller nicht allzu viel im Sinn.
Geboren am 27. Juni 1880 in Tuscumbia, Alabama, verlor Helen Keller mit 18 Monaten aufgrund einer Hirnhautentzündung ihr Hör- und Sehvermögen. Als sie sieben Jahre alt war, fanden die Eltern, die gute Kontakte zu Kultur- und Wissenschaftskreisen besaßen, über den Erfinder und Unternehmer Alexander Graham Bell eine Lehrerin für ihre Tochter. Dank ihrer Begleiterin und späteren Freundin Anne Sullivan vermochte es Helen Keller dann mit ihrer enormen Auffassungsgabe und Beharrlichkeit, eine bedeutende Autorin zu werden.
Auf die Frage, ob ihre Mission Bildung oder Revolution sei, antwortet Helen Keller knapp: »Revolution.« Mit Bildung, die ohnehin institutionalisiert sei, habe man es lange genug probiert.
Frühe Filmaufnahmen zeigen, wie Keller und Sullivan sich unterhielten: Zwei Hände ineinander verschränkt, Finger jagen über Fingerkuppen und Handballen, tippen und streicheln. Das ist Lormen, die Sprache, die der taubblinde Schriftsteller Hieronymus Lorm im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Vor Lormen nutzten Keller und Sullivan zur Verständigung das Fingeralphabet, wobei sie ihre Hände entsprechend berührten. Zudem lernte Keller Brailleschrift zu lesen und Tadoma, eine Technik, um Redende durch Auflegen der Hände an Mund, Nase und Hals zu verstehen. So lernte Keller auch sprechen. Keller beherrschte mehrere Sprachen und wurde zur internationalen Advokatin Blinder und Taubblinder.
In ihrem Buch »Meine Welt« legte sie die schon zu ihrer Zeit, wenn auch in anderer Form bestehenden Triggerwarnungen als Kehrseite des Ableismus bloß, als ihr im Matilda Ziegler Magazine for the Blind Folgendes aufstieß: »Manche Gedichte und Geschichten müssen ausgelassen werden, weil sie von Sehen handeln. Anspielungen auf Regenbogen, schöne Landschaften dürfen nicht gedruckt werden, weil sie dem Blinden sein trauriges Schicksal besonders zum Bewusstsein bringen würden.« Keller konterte: »Das heißt also: Ich darf nicht von schönen Häusern und Gärten sprechen, weil ich arm bin. Ich darf nicht von Paris und Westindien lesen, weil ich diese Gegenden nicht in Wirklichkeit aufsuchen kann. Dieses gewagte Spiel ist nun aber gerade das halbe Entzücken, die eigentliche Lustigkeit des Alltagslebens. Ich erglühe, indem ich von glänzenden Erscheinungen lese, die nur das Auge wahrnehmen kann. Sie tragen meine Seele über die enge Wirklichkeit meines traurigen Geschickes hinaus.«
Diese kampflustigen Worte stehen im Gegensatz zur christlichen, paternalistischen Rezeption, die sich schon am Umfeld, in dem Keller in Deutschland bisher behandelt oder verlegt wurde, ersichtlich wird. Am auffälligsten ist das bei Biographien über Keller: Erschienen in der Reihe »Christ in der Welt« ist Martin Jaedickes »Helen Keller – Botschaft der Hoffnung)«, der christliche Verlag Down to Earth publizierte 2005 Andrea Spechts »Helen Keller: Eine, die mit den Händen sah«, in dem es heißt: »Helen besaß eine ureigene Kraft sich zu freuen, zu staunen und vor Dankbarkeit überzufließen. Mit ihrem Optimismus steckte sie Menschen an. Mitleid mit ihrem Schicksal löste Helen nie aus. Denn ihr Wesen strahlte vor Freude und innerer Liebenswürdigkeit.« Tenor dieser Bücher ist meist: Wegen und nicht trotz ihrer Taubblindheit gelangte Keller zum irgendwie wahreren Sehen.
Allein schon die Ansprache mit dem Vornamen macht die vereinnahmende Art klar, mit der Specht eine historische Person zum Mittel ihres missionarischen Eifers macht. Zwar hieß Kellers erstes Buch »Optimism« und pflegte durchaus einen esoterischen Stil, jedoch nutzt Specht eben jenen, um mit der Feier von Dankbarkeit, Optimismus und Schicksal eine demütig angenommene Gottesprüfung zu inszenieren. Derlei Erbaulichkeit vermied Keller selbst entschieden.
Außerhalb des Jugendbuchbereichs findet sich keine Biographie ohne christlichen Impetus. Da wird aus Fiona MacDonalds Titel »The Deaf and Blind Woman Who Conquered Her Disabilities and Devoted Her Life to Campain for Other People« im Deutschen zu »Die blinde und gehörlose Frau, die zum ›Engel der Blinden‹ wurde«. Es sind diese religiösen Wendungen von der Blinden, die zur Sehenden wird, die in der Dunkelheit das Licht findet, die Erzählung von Kellers Optimismus und Sullivans Aufopferung, die deren Vermächtnis so attraktiv für Gläubige macht; es ist quasi die Zähmung des Wolfskinds, die das Gouvernantenhafte im christlichen Bürgertum anspricht. Die damals noch unscharfen Begriffe wie »soul« oder »spirit«, übersetzt mit »Seele« oder »Glauben«, die aber auch »Psyche« oder »Geist« hätten bedeuten können, luden ebenfalls zur religiösen Lesart ein. Zudem waren viele Blindenanstalten ihrer Zeit noch unter christlicher Schirmherrschaft. Sullivan selbst lebte wegen ihrer Sehbehinderung bei Nonnen in Massachusetts, bevor sie an die Perkins School for the Blind kam. Die Geschichte Kellers ist also unmittelbar verknüpft mit Erfolgen jener christlicher Pflegeeinrichtungen, für deren Modernisierung sie dann eintrat.
Der Druck auf Keller, sich zum Glauben zu bekennen, war groß. Als Frau, die Twain, Einstein, Chaplin, und Roosevelt kannte, sollte sie Vorzeigefigur christlicher Wohltätigkeit werden. Nachdem sie 1916 bereits in der Zeitung New York Tribune öffentlich mit der Religion gebrochen hatte, gab sie 1927 doch noch nach, allerdings mit einer cleveren Volte. Unter dem Titel »My Religion« schrieb sie über den Theosophen Emanuel Swedenborg, der im 18. Jahrhundert die Gelehrtenwelt mit spirituellen Visionen verärgerte. Sie kritisierte, »wie eine verbitterte Theologie den Menschen als verachtenswertes Kind der Sünde sah«.
Daneben konnte Keller das Abdriften des Schweden aus dem Weltlichen ins Spirituelle als Metapher nutzen, um ihre eigenes Bewusstsein als bestimmt von der Diskrepanz zwischen bloß taktiler Wahrnehmung und geistiger Welterschließung zu beschreiben. Über ihre Kindheit, bevor sie ihre Lehrerin Sullivan kennenlernte, schreibt sie: »Ich habe buchstäblich mit meinem Körper gedacht. Ohne Ausnahme sind meine Erinnerungen aus dieser Zeit taktil.« Später folgt eine Passage, die beschreibt, was ihr beim Lesen eines Reiseberichts bewusst wurde: »Ich nahm die Echtheit meiner Seele, ihre schiere Unabhängigkeit von allen Bedingungen des Raums und Körpers wahr. Es wurde mir klar, dass ich, weil ich ein geistiges Wesen war, einen Ort so lebhaft ‚sehen‘ und fühlen konnte, der doch tausende Meilen weit weg war. Raum bedeutet nichts im Vergleich zum Geist.« Diese Wahrnehmung beschreibt sie beinahe als Epiphanie, sie wird sich der Grenzenlosigkeit des Verstandes bewusst. So spricht sie durch die Blume über den Glauben an sich selbst und nicht über den an etwas Übersinnliches.
Es gibt keine Übersetzung von »My Religion« in einem christlichen Verlag, dafür erschien es aber 1970 unter dem Titel »Licht in mein Dunkel« im Swedenborg-Verlag, der hauptsächlich die Schriften von Emanuel Swedenborg vertreibt und diese unter anderem mit der Behauptung bewirbt, dieser habe »mit den Engeln« gesprochen. »My Religion« machte Keller unter Spiritualisten und Anthroposophen bekannt. Da ist Werner Pieper mit seinem Buch »Blind, taub und optimistisch – Leben und Lernen der Helen Keller« wenigstens noch unterhaltsam skurril. In seinem Verlag namens Der Grüne Zweig gilt sie als Beispiel einer Art erweiterten Bewusstseins und taucht im Programm neben Dokus wie »Nazis on Speed« und Büchern über LSD, halluzinogene Pilze und alternative Lebensweisen auf. Sein Vorwort zu Kellers »Meine Welt« datierte Pieper auf vier Wochen vor dem 100. »Seelengeburtstag Helen Kellers«.
Helen Kellers sozialistisches Engagement geht in der spirituellen Rezeption so gut wie unter. In ihrem Aufsatz im gleichnamigen Buch »Wie ich Sozialistin wurde« äußert sie sich sehr direkt und weitaus weniger verblümt als zum Thema Religion: »Wie ich Sozialistin wurde? Durch Lesen.« Es ist verwunderlich, dass die deutsche Version von 1914 nahezu unauffindbar ist und noch niemand Helen Kellers Schriften entsprechend untersucht hat.
Keller unterstützte im Spanischen Bürgerkrieg die Republikaner und forderte US-amerikanische Waffenlieferungen für die Gegner Francos. In einem Interview 1916 widersprach sie der Ansicht, Blindheit sei eine von Gott auferlegte Bürde und prangerte die miserablen industriellen Arbeitsbedingungen als Ursache für Blindheit an. Auf die Frage, ob ihre Mission Bildung oder Revolution sei, antwortet sie knapp: »Revolution.« Mit Bildung, die ohnehin institutionalisiert sei, habe man es lange genug probiert. »Ich schere mich einen Dreck um Halbradikale.«
In einem anderen Aufsatz erklärte sie, warum Männer die Suffragetten brauchen: »Einige Männer beschützen Frauen. Wir fordern das Recht aller Frauen, sich selbst zu schützen und Männer von ihrer feudalen Verantwortung erlösen zu können.« Polemik steht bei Keller neben klarer materialistischer Kritik, wenn sie erklärt, warum Frauen und Töchter ihre Löhne an Männer und Väter abgeben müssen, keinen Besitz haben dürfen, sondern vielmehr Eigentum sind. Einleuchtend leitet sie her, wie Industrialisierung ohne soziale Sicherheit erfordert, dass die massenhaft arbeitslosen Frauen das Wahlrecht bekommen.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs sprach sie sich im sozialistischen Blatt New York Call für das Ende der Belagerung der Sowjetunion aus und zehn Jahre später gedachte sie gar Lenin und des kommunistischen »Experiments in Russland«. Ihr Interesse am Sozialismus sei ihrer Behinderung geschuldet, meinte einst ein Journalist des Boston Eagle. Keller entgegnete öffentlich:«Einst waren seine Komplimente so großzügig, dass ich errötete. Jetzt, da ich ich mich als Sozialistin betätige, erinnert er mich und die Öffentlichkeit daran, dass ich blind, taub und anfällig für Irrtümer sei. Mir muss wohl der Intellekt geschrumpft sein seit unserer letzten Begegnung. Jetzt ist ganz sicher er dran, rot zu werden. Kann schon sein, dass einem Taub- und Blindheit dem Sozialismus näher bringen. Marx war bestimmt stocktaub und William Morris (britischer Künstler und leidenschaftlicher Sozialist im 19. Jahrhundert, Anm. d. Red.) blind. Morris hat bestimmt nach Gefühl gemalt und seine Tapeten nach Geruch entworfen.«
Keller starb 1968 im Schlaf. Im Internet sind ihre FBI-Akte und die 1967 in den USA veröffentlichten sozialistischen Schriften im Helen Keller Reference Archive zugänglich. Am 27. Juni wäre Keller 140 Jahre alt geworden.