Wegen der Coronakrise werden die Tarifverhandlungen des ÖPNV verschoben

Das Klima braucht mehr Nahverkehr

In künftigen Tarifauseinandersetzungen im öffentliche Nahverkehr geht es nicht nur um höhere Löhne, sondern auch um den Klimaschutz. Die Gewerkschaften erhalten Unterstützung von der Bewegung »Fridays for Future«.

Auch Tarifverhandlungen bleiben von der Covid-19-Epidemie nicht verschont: Vor drei Wochen teilte die Gewerkschaft Verdi mit, die in Schleswig-Holstein geführten Verhandlungen mit dem Omnibusverband Nord (OVN) seien bis nach Ostern ausgesetzt. »Nachdem auf Veranlassung der Landesregierung die Schulen bis nach Ostern geschlossen bleiben und auch andere Bereiche des öffentlichen Lebens mehr und mehr eingeschränkt werden, wollen wir die Kunden des öffentlichen Personennahverkehrs nicht mit Arbeitskampfmaßnahmen belasten«, sagte der Verhandlungsführer der Gewerkschaft, Karl­-Heinz Pliete. Mittlerweile hat Verdi die gesamte Tarifkampagne, die für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in allen Bundesländern geplant war, in Abstimmung mit den Tarifkommissionen wegen der Pandemie vorerst ausgesetzt.

Dem »Klimapaket« der Bundes­regierung zufolge sollen zwar Milliarden in den öffentlichen Nahverkehr investiert werden,
aber erst ab 2025 und nicht in höhere Löhne und mehr Personal.

Wann sie auch stattfinden werden – die Verhandlungen im ÖPNV dürften hart werden. Es geht nicht nur um Löhne und Fragen der Infrastruktur. Um für den Klimaschutz die CO2-Emissionen und den Autoverkehr zu verringern, ist eine erhebliche Ausweitung des ÖPNV nötig. Mit Ausnahme der AfD plädieren alle im Bundestag vertretenen Parteien für einen Ausbau des Bus- und Bahnverkehrs. Das »Klimapaket« der Bundesregierung sieht auch genau dies vor, um die Klimaziele zu erreichen. Solche Schritte werden zwar seit Jahren diskutiert, die konkreten Maßnahmen blieben bislang allerdings begrenzt. Das trifft vor allem die Beschäftigten in diesem Bereich.

Etwa 130 000 Mitarbeiter sind bundesweit bei öffentlichen Verkehrsunternehmen beschäftigt, die Hälfte von ihnen als Fahrerinnen und Fahrer. Ihre Arbeitsbedingungen sind häufig unsicher, die Löhne meist niedrig. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts in den vergangenen beiden Jahrzehnten traf auch den öffentlichen Nahverkehr. Kommunale Verkehrsgesellschaften bildeten eigene Servicegesellschaften, in die Personal ausgelagert wurde, das für die gleiche Tätigkeit weniger Lohn bei schlechteren Arbeitsbedingungen erhielt. Kommunalunternehmen wurden ausgegliedert, um die Tarifverträge im Öffentlichen Dienst zu umgehen. Hinzu kommen Befristungen, Leiharbeit und Werkverträge sowie eine Aufsplitterung des Tarifgefüges.

Überdies wurde der ÖPNV, wie andere Bereiche der öffentlichen Infrastruktur, im Zuge der Privatisierungswelle kaputtgespart. Ein Großteil der Gleisanlagen und sonstigen Infrastruktur stammt aus den siebziger und achtziger Jahren. Verkehrsexperten gehen von einem Sanierungsbedarf im Umfang von mehr als sechs Milliarden Euro aus.

Während das 2019 verabschiedete »Klimapaket« der Bundesregierung vorsieht, die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer des ÖPNV bis 2030 um 30 Prozent zu erhöhen, wird sich bis dahin die Hälfte des derzeit tätigen Fahrpersonals in den Ruhestand verabschiedet haben. Dabei kann vielerorts wegen fehlenden Personals zurzeit bereits der ­reguläre Fahrbetrieb kaum aufrechterhalten werden. Nachwuchskräfte sind wegen der belastenden Arbeitsverhältnisse kaum zu finden. Viele Verkehrsbetriebe haben zudem jahrelang keine eigenen Fahrer ausgebildet, sondern ehemalige Zeitsoldaten und Wehrpflichtige rekrutiert, die in ihrer Bundeswehrzeit die erforderliche Fahrerlaubnis erwarben. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und dem Umbau der Bundeswehr fiel diese Personalressource weitgehend weg. Dem »Klimapaket« zufolge sollen zwar Milliarden in den ÖPNV investiert werden, aber erst ab 2025 und nicht in höhere Löhne und mehr Personal.

Die Unterfinanzierung des Nahverkehrs bei zugleich wachsendem Druck auf die Beschäftigten könnte den öffentlichen Verkehrsunternehmen künftig die größten Streiks seit Jahrzehnten bescheren. Eigentlich werden die Löhne und Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter im ÖPNV in 17 verschiedenen regionalen Tarifbezirken ausgehandelt, was ein gemeinsames Vorgehen der Beschäftigten erschwert. Verdi hat jedoch zum ersten Mal alle Tarifverträge zum selben Zeitpunkt gekündigt und ist damit bundesweit streikfähig. Im Sommer könnten also erstmals in allen Bundesländern Busse und Bahnen stillstehen – vorausgesetzt, die Entwicklungen der Coronakrise lassen das zu. Die Tarifverträge laufen zum 30. Juni 2020 aus.

Um sich in dem anstehenden Konflikt durchzusetzen, geht die Gewerkschaft bei der Wahl ihrer Bündnispartner neue Wege. Gerade bei Tarifkonflikten im Dienstleistungssektor ist häufig mitentscheidend, wie die öffent­liche Meinung und die betroffenen Kunden auf Arbeitsniederlegungen reagieren. Bereits in der Vergangenheit stellte Verdi bei Tarifkonflikten im ÖPNV ökologische und gesellschaftliche Aspekte ins Zentrum ihrer Außendarstellung. Mit dem Erstarken der Klimaschutz- und Umweltbewegung in jüngster Zeit ergeben sich dafür neue Möglichkeiten: Verdi sucht die Zusammenarbeit mit »Fridays for Future«. Wie unlängst in einer gemeinsamen Stellungnahme bekanntgegeben wurde, sollen Mitglieder von Fridays for Future in die anstehende Auseinandersetzung eingebunden werden und die Verhandlungen sowie mögliche Arbeitsniederlegungen mit einem öffentlichkeitswirksamen Vorgehen begleiten. Das gemeinsame Ziel von Verdi und Fridays for Future ist es der stellvertretenden Verdi-Vorsitzenden Christine Behle zufolge, den Kampf für den Klimaschutz mit dem für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbinden. »Die Verkehrswende wird es nur mit mehr Beschäftigten im ÖPNV geben, und die kann man nur gewinnen, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern«, sagte Behle. Die gemeinsame Kampagne der Gewerkschaft und der Klimaschützer sollte eigentlich bereits in den kommenden Wochen beginnen, ist angesichts der Pandemie jedoch vorerst vertagt.

Völlig überraschend kommt die enge Zusammenarbeit von Verdi mit Fridays for Future nicht. Bereits in der im vergangenen Jahr verabschiedeten »Kasseler Erklärung« forderten Betriebs- und Personalräte aus über 100 Nahverkehrsunternehmen umfangreiche Maßnahmen zum Klimaschutz, die auch die Klimaschutzbewegung in ähnlicher Weise verlangt. Der öffentliche Nah­verkehr müsse endlich als unverzichtbares Element einer wirksamen Klimapolitik begriffen werden, heißt es in der Erklärung.

Geht es um die Finanzierung des ÖPNV, gehen die Forderungen der Gewerkschaften jedoch weiter als die von Fridays for Future. So fordert Verdi statt der von Klimaschützern vielfach diskutierten Bürgerumlage eine besondere Abgabe für Unternehmen. Immerhin ist der Weg zur Arbeit einer der Hauptgründe, Bus und Bahn zu nutzen; Unternehmen profitieren also in besonderem Maße vom öffentlichen Nahverkehr.

Bereits auf dem Verdi-Bundeskongress im Herbst hatten Vertreter von Fridays for Future zu den Delegierten gesprochen. Diese hatten wiederum weitreichende Beschlüsse zum Klimaschutz gefasst, von der Unterstützung der Proteste im Hambacher Forst bis zur Forderung nach einem beschleunigten Kohleausstieg. Zuvor hatte der auch vom scheidenden Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske unterstützte »Klimastreik« eine rege Debatte über die Notwendigkeit des politischen Streikrechts in den Gewerkschaften ausgelöst.

Selbstverständlich ist die Zusammenarbeit zwischen Klimaschützern und Verdi jedoch nicht. In vielen Bereichen gibt es durchaus gegensätzliche Interessen. So vertritt die Dienstleistungsgewerkschaft auch die Beschäftigten in den Kohlekraftwerken, deren schnel­lere Abschaltung Fridays for Future fordert. Auch die Beschäftigten im Bereich der Atomenergieerzeugung gehören zum Organisationsbereich von Verdi. Trotzdem schreitet die Annäherung zwischen Gewerkschaften und der Klimaschutzbewegung voran; nicht nur bei Verdi, sondern auch bei der größten DGB-Gewerkschaft IG Metall. Bei einem öffentlichkeitswirksamen Treffen mit Vertretern von Fridays for Future im September betonte auch der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, das gemeinsame Ziel, den Klimawandel aufzuhalten. »Dazu, auch das eint uns, ist es elementar, dass die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens, in dem sich die Welt zu einer drastischen CO2-Reduktion verpflichtet hat, auch eingehalten werden«, sagte er. Wie Verdi will auch die IG Metall ihre Zusammenarbeit mit Fridays for Future ausbauen. Derzeit werden Vorschläge für eine Institutionalisierung der Zusammenarbeit auf örtlicher Ebene und konkrete gemeinsame Kampagnen erarbeitet.