Der analoge Mann

Der analoge Mann

Ich warte in der Schlange vor dem Büro von Flixbus am ZOB in Hamburg. In 15 Minuten fährt der nächste Bus nach Berlin und ich habe noch kein Ticket. Vor mir sind noch neun Leute. Der Mann ganz vorne geht langsam an einen freien Schalter. Er spricht nicht, hält nur sein Handy in der Hand und scrollt darauf herum, scheint irgendwas zu suchen. Die blonde Frau hinter dem Schalter im grellgrünen Flixbus-Hemd wartet darauf, das er endlich den Mund aufmacht. Sie wird unruhig, guckt ihn immer wieder an und dann auf die Schlange der Wartenden. Er scrollt nur weiter auf seinem Handy. Ihre Unterarme sind tätowiert, aber sie ist eigentlich mehr der biedere Hausfrauentyp.

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Andreas Michalke

»Willst du ein Ticket kaufen oder willst du mit deinem Handy rumspielen?« raunzt sie ihn an. »Wo willst du hin?« Er zeigt nur auf sein Handy. »Ich telefoniere nicht!« ruft die Flix-Frau. »Nein. Mach ich nicht!« Er legt sein Handy auf den Schalter. Eine Stimme ist zu hören. Ich bin zu weit weg, ich kann sie nicht genau verstehen. Die tätowierte Flix-Mutti offensichtlich auch nicht. Sie hält das Handy ans Ohr: »Was ist das für eine Sprache? Was soll das?« Dann: »Ah … ja … hören Sie, ich kann Sie ganz schwer verstehen!« Die Stimme aus dem Handy spricht gebrochenes Deutsch. Es geht eine Weile hin und her, dann bricht der Kontakt ab. Der Mann verlässt ohne Ticket das Büro.

Mein Aufenthalt in Hamburg führte mich von einer Katastrophe in die nächste, weil ich kein Handy hatte. Überall ließ ich Leute warten. Ich hätte im Boden versinken können für meine Verpeiltheit. Aber was ist mit diesem Mann? Da ist er schon digital unterwegs und trotzdem versagt er komplett! Warum hat er nicht einfach auf einen Zettel geschrieben, wo er hin will? Seine Probleme sind existentieller. Er spricht kein Deutsch, kein Englisch, kann vielleicht auch nicht schreiben und wird dazu noch herabgesetzt. Kurz bevor der Bus losfährt, komme ich endlich an die Reihe.

Jetzt muss es schnell gehen: »Ein Ticket nach Berlin, bitte!«

Die Frau hinter dem Schalter ist überrascht: »Jetzt gleich?«

»Ja, wenn’s geht.«

»Das geht schon, aber das kostet 30 Euro, plus Servicegebühr, macht 33 Euro 50.«

»Na und? Ist doch kein Problem!«

»Wirklich?«

»Na klar.«

»Aber das ist mehr als das Doppelte. Normalerweise kostet das Ticket 13 Euro. Der nächste Bus geht in einer Stunde.«

»Ja, aber dann muss ich hier ’ne Stunde rumhängen!« sage ich und lege zwei 20-Euro-Scheine auf den Schalter. Ich werde ihr nicht verraten, dass ich 30 Euro für einen angemesseneren Fahrpreis halte als 13 Euro. Ich finde, der Bus ist zu billig und die Bahn übertrieben teuer. 90 Euro hätte mich ein One-Way-Bahnticket gekostet, wenn ich mich spontan an einen Schalter im Hauptbahnhof gestellt hätte. Unverschämt teuer! Wenn ich Pech gehabt hätte, hätte ich vielleicht noch nicht einmal einen Sitzplatz bekommen und wäre in einem Abteil mit lauter schreienden Kleinkindern festgesteckt. Nichts gegen Babys, aber sie können eine Reise zur Hölle machen. Da geht der gefühlte Gegenwert des Tickets schnell gegen null. Flixbus hingegen ist etwas für allein reisende Erwachsene, die ruhig auf ihren Plätzen sitzen können. Aber jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen, Flix-People! Für die mitunter nahezu mittellosen Menschen, die ihr transportiert, sind eure Preise kein Pappenstiel.

Eigentlich würde der Bus jetzt abfahren. Die Frau am Schalter telefoniert kurz und lässt mich dann zum Bus rennen, um Bescheid zu sagen, dass ich noch dazukomme. Erst dann bezahle ich am Schalter, werfe meinen Rollkoffer ins Gepäckfach und steige ein. Nicht als letzter, aber Doppelsitze sind nicht mehr frei. Ich ziehe die ­Jacke aus, lege meine Tasche in die Hutablage und setzte mich neben ­einen mit einer Tasche besetzten Platz gleich neben der mittleren Tür. Eine junge Frau steigt ein, danach eine ältere. Beide gehen an mir vorbei.

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Andreas Michalke

Dann sehe ich, wie ein Mann sich die Treppe hinaufzieht. Er trägt eine Leder­jacke, hat eine Schiebermütze auf und hält eine Schale Pommes. Und er wankt. Noch auf der Treppe sieht er, dass ich mich auf den Platz neben ihn gesetzt habe. »Weggegangen, Platz vergangen, oder was soll das werden?« motzt er mich an. Na, toll! Ausgerechnet neben den einzigen betrunkenen Idioten im Bus muss ich mich setzen! »Ich muss doch irgendwo sitzen«, entgegne ich und zeige auf seinen Sitz. »Hier sitzen Sie. Und hier sitze ich.« Ich stehe auf, um ihn auf seinen Platz zu lassen. Schwerfällig lässt er sich auf den Sitz plumpsen. Nicht seinen, meinen. Guckt ­geradeaus und tut so, als wäre ich nicht da. Damit scheint die Sache für ihn erledigt. Ich setzte mich neben einen jungen Mann einen Platz weiter.

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Andreas Michalke

Ich hatte schon auf der Hinfahrt neben der Toilette gesessen. Auch diesmal sind anscheinend lauter Blasenschwache an Bord. Pausenlos geht jemand aufs Klo. Junge Frauen und Männer. Manche sogar mehrmals. Ich gehe nie auf die Bustoilette und den Sitz schiebe ich auch nie zurück. Aus Rücksicht und aus Sportlichkeit. Ich bin stolz auf meine noch funktionierende Blase. Irgendwann in ein paar Jahren ist es damit sowieso vorbei. Zuletzt benutzt ein junger Mann die Toilette und lässt die Tür auf. Licht dringt ins Dunkel des Busses. Die Tür schwingt auf und zu. »Tür zu!« ruft eine Frau Mitte 50 mit stacheligem Provinzhaarschnitt. »Ja!« brüllt der Betrunkene. Aber niemand regt sich, der junge Mann sitzt längst auf seinem Platz.

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Andreas Michalke

Ich stehe auf und gebe der Tür einen leichten Tritt mit dem Fuß. »Jawoll!« sagt der Betrunkene anerkennend, als die Tür ins Schloss fällt, und schiebt sich Pommes in den Mund. Jetzt will ich seine Anerkennung nicht mehr. Ich ignoriere ihn. Ruhe kehrt ein. Nur leise höre ich ein Schnarchen. Später ­stecken wir im Stau und erreichen Berlin mit einer Stunde Verspätung. Wiederum eine Stunde später komme ich endlich zu Hause an. Mit mittlerweile übervoller Blase schaffe ich es nur knapp zum Klo. Wäre ich mal bloß auf die Bordtoilette gegangen!