Rassismus, Antisemitismus und der Anschlag von Halle

»Eine Überraschung war es nicht«

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Interview Von

Aber ist der Antisemitismus nicht auch ein Phänomen, das sich von anderen Formen von Rassismus unterscheidet?
Dieser Tage heißt es immer wieder, Halle sei ein Angriff auf uns alle. Es gehe um Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass es um Menschenfeindlichkeit und Demokratie­feindlichkeit geht, aber was man ­verkennt, ist sowohl die spezifische Wirkungsweise von Rassismus und Anti­semitismus als auch deren Zusammenhang. Der Attentäter hat den Zusammenhang durch den Angriff auf das Dönerlokal sehr deutlich gemacht, aber eben auch den Unterschied: Die Juden seien die Wurzel allen Übels, das hat er wörtlich gesagt.

Die Juden stehen als Hauptverantwortliche ganz oben auf den Feindeslisten.
Zum Antisemitismus gehört dieses weltideologische Element, das bei ­anderen Formen von Rassismus fehlt. Juden werden für alles Übel verantwortlich gemacht, beispielsweise für die sogenannte Masseneinwanderung. Juden symbolisieren in der antisemitischen Ideologie Überlegenheit und im Rassismus gegen sie wird gleichzeitig ihre Unterlegenheit betont. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang zu verstehen, auch für eine antirassistische Praxis. Bei Verallgemeinerungen, die besagen, das sei alles Menschenfeindlichkeit, gehen die entscheidenden Details verloren, ebenso wie wenn der Antisemitismus als Unterkategorie von Rassismus verstanden wird, statt die Spezifik des Antisemitismus anzuerkennen.

Wo sehen Sie dieses Problem im konkreten Fall von Halle?
Nach dem Angriff waren deutsche Spitzenpolitiker sofort zur Stelle. Merkel, Steinmeier, alle möglichen Poli­tiker äußern sich, stellen sich vor Synagogen. Das Dönerlokal, in dem jemand ermordet wurde, erhielt einen Bruchteil der Aufmerksamkeit. Der Angriff auf das Dönerlokal hat mit ­Sicherheit Betroffene und Angehörige an den NSU erinnert. Diese Aufmerksamkeitsökonomie ist ein Problem.
Zu wenig wird meines Erachtens darüber gesprochen, dass der Anschlag ­sowohl antisemitisch als auch rassistisch war. Es ist ganz wichtig, sich insbesondere in der Situation der Angst nicht gegeneinander aufbringen zu lassen. ­Besonders hat mich daher gefreut, dass fast alle jüdischen Stimmen, insbesondere die derer, die in der Synagoge waren, sofort auf den Zusammenhang von Rassismus und Antisemitismus hingewiesen haben und sich mit den Mordopfern und den Angegriffenen solidarisierten.
Gleichzeitig muss man sich klar machen, dass die Perspektiven der ­jüdischen Betroffenen – offensichtlich auch im Vorhinein die Bitte um Sicherheitsvorkehrungen – wenig Beachtung fanden. Juden und Jüdinnen kennen das ewige Gerede vom »Nie wieder« und trotzdem lebt man als sichtbare ­Jüdin bis heute gefährlich.
Leider bleiben Jüdinnen und Juden aber auch im Kontext antirassistischer Politik oft unsichtbar oder werden nicht berücksichtigt.

Wie meinen Sie das?
Juden und Jüdinnen gelten als »weiß«, was auf die Mehrheit zutrifft, und ­werden oft als nichtmigrantisch wahrgenommen – obwohl mehr als 90 Prozent der in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen eine Migrationsgeschichte haben. Hier zeigen sich die Probleme mit diesen Kategorien. Auch wenn Juden vielleicht nicht immer auf den ersten Blick als solche ­erkannt werden, ist ihr Leben nicht weniger bedroht. Unsichtbarkeit jüdischen Lebens spielt durchaus eine Rolle. Ich finde, in der antirassistischen Politik sollten jüdische Unsichtbarkeit und Fragilität stärker reflektiert werden, um eine Verbindung der Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus zu ermöglichen.