In Kolumbien fordern Angehörige von »Verschwundenen« Aufklärung

Beharrlich auf der Suche

Über 80 000 Menschen sind in Kolumbien zwischen 1970 und 2015 gewaltsam zum »Verschwinden« gebracht worden. Als 2016 die ­kolumbianische Regierung und die Guerilla Farc einen Friedensvertrag schlossen, hofften viele der Angehörigen auf Aufklärung, unter ihnen Fabiola Lalinde und Teresa Gaviria. Die beiden haben durch hart­näckige Recherche in einigen Fällen beweisen können, wo ­verschwundene Angehörige geblieben sind.

Jeden Freitag stehen Teresa Gaviria und ihre Mitstreiterinnen vor der Kirche La Candelaria im Zentrum von Medellín und breiten Transparente aus, halten die Fotos ihrer vermissten Angehörigen hoch und appellieren an die Passanten. »Schluss mit den Entführungen und dem Verschwindenlassen. Kommt, tut etwas, sagt etwas; damit es nicht auch dich erwischt«, ist einer der einstudierten Sätze. Manchmal werden Flugblätter verteilt, oft bleiben Menschen stehen und lassen sich die Geschichte der Madres de la Candelaria erzählen.

»Es sind vor allem Frauen, die insistieren, Aufklärung fordern und nicht locker lassen.«

»Caminos de la Esperanza – Madres de la Candelaria« (Wege der Hoffnung – Mütter der erleuchteten Maria) heißt die Opferorganisation aus Medellín mit ganzem Namen. Am 19. März 1999 wurde sie von 13 Frauen gegründet, darunter die heute 70jährige Gaviria, von den meisten Teresita genannt. Sie wollten die Wahrheit wissen über den Verbleib ihrer Angehörigen, die entführt worden und seither spurlos verschwunden waren. »Daran hat sich bis heute nichts geändert«, sagt die kleine Frau mit der rötlich-blonden Kurzhaarfrisur, die jeden Freitag dabei ist, wenn ihre Gruppe die Verantwortlichen auffordert, die Suche nach den Verschwundenen endlich ernsthaft aufzunehmen. Seit 20 Jahren treffen sich die Frauen vor der weißgetünchten Kirche an der 51. Straße im Zentrum von Medellín, deuten auf die Transparente mit den Gesichtern von Dutzenden von Menschen, jungen wie älteren; es sind ihre Kinder, Brüder, Väter und sonstige Verwandte, deren Verbleib ungewiss ist. Eine Ungewissheit, gegen die die Frauen rebellieren; sie fordern Untersuchungen und lassen nicht locker.

Die Verschwundenen sichtbar machen
Seit Beginn des Jahres 1998 ist Gaviria auf der Suche. Damals verschwand ihr Sohn Cristian Camilo Quiroz. »Es war der 5. Januar 1998. Gemeinsam mit seinem Freund Jonathan und ihrem ­Lehrer Wilson wollte er nach Bogotá – ich hatte ihnen mein Auto geliehen«, erzählt Gaviria.

Seitdem hat sie nie wieder ein Lebenszeichen von ihrem Sohn erhalten. Wahrscheinlich ist, dass der 15jährige gemeinsam mit seinem Freund und dem Lehrer den paramilitärischen Kämpfern von Ramón Isaza alias Caruso in die Hände fiel. Aussagen mehrerer ­paramilitärischer Kämpfer zufolge sollen diese die beiden Jugendlichen und ihren Lehrer erschossen und wie so viele andere Leichen im Río Magda­lena versenkt haben. Doch Gewissheit hat Gaviria bis heute nicht. Ein Grund, weshalb sie weiterhin aktiv ist – auch 20 Jahre später. »Wir haben keine Alternative, wenn wir nicht wollen, dass sich so etwas in unserer Geschichte wiederholt«, sagt sie bei der kleinen Feier zum 20. Jubiläum der Frauenorga­nisation. Die fand am 19. März im Museo Casa de la Memoria (Museum Haus der Erinnerung) in Medellín statt.

Das Museum versteht sich als Raum der Begegnung und als ein Ort, an dem die Opfer des langjährigen bewaffneten Konflikts in Kolumbien ein Zuhause finden – deshalb trägt es auch das Wort casa (Haus) im Namen. Es befindet sich am Rande des Zentrums von Medellín in einem markanten dreistöckigen Bau, der an einen eckigen, dunklen Betontunnel erinnert. Hier finden Veranstaltungen statt, können Opferorganisationen sich beraten lassen, die ­Seminarräume nutzen oder sich einfach treffen. Zu den Gruppen, mit denen das Museum arbeitet, gehören ehemalige Guerilleras der Farc genauso wie Aktivisten aus den Comunas von Medellín, den Stadtbezirken, sowie die Madres de la Candelaria. Deren Spuren finden sich auch im Museum wieder und die Direktorin Cathalina Sánchez Escobar ist froh, dass dem so ist. »Die Madres de la Candelaria haben nationalen Vorbildcharakter. Es sind vor allem Frauen, die insistieren, Aufklärung fordern und nicht locker lassen«, sagt sie.

Cathalina Sánchez Escobar, die Direktorin des Museums »Haus der Erinnerung«.

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Knut Henkel

Den 13 Frauen, die den Verein gründeten, haben sich rund 900 Menschen angeschlossen, zu 90 Prozent Frauen, die sich gegenseitig bei der Suche nach ihren Angehörigen unterstützen. 1 176 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen haben sie dokumentiert und bisher 78 Leichen ausfindig gemacht. Dafür erhielten die Madres 2006 den nationalen Menschenrechtspreis, auch an den Friedensverhandlungen in Havanna zwischen der Guerilla Farc und der kolumbianischen Regierung nahmen sie teil.

Institution ohne Rückhalt
Ihnen und anderen Opferorganisationen wie der Nationalen Bewegung der Opfer von Staatsgewalt (Movice) ist es zu verdanken, dass die Verschwundenen ein Thema bei den Verhandlungen waren. Zwischen 25 000 und 100 000 Menschen sind Schätzungen zufolge in Kolumbien zwischen 1970 und 2015 gewaltsam zum Verschwinden gebracht worden. Die jüngste und umfassendste Untersuchung stammt vom Nationalen Zentrum für historische Erinnerung (CNMH), wurde im Februar 2018 vorgelegt und kommt auf 82 998 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens. Das Gros davon geht nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen wie der Kolumbianischen Juristenkommission auf das Konto der staatlichen Ordnungskräfte. Erst nach der Armee und der kolumbianischen Polizei kommen die anderen bewaffneten Akteure: ­paramilitärische Gruppen und die verschiedenen Guerillaorganisationen.

Die Täter sollen bei der Suche nach den Verschwundenen helfen, preisgeben, wo sie ihre Opfer verscharrt haben, sowie Details zum Motiv offenbaren. Das ist die zentrale Hoffnung vieler Opferorganisationen, so auch der Madres de la Candelaria. Die nehmen aktiv an der Suche nach den Verschwundenen teil und kooperieren mit der Wahrheitskommission sowie der Sonderjustiz für den Frieden (JEP). In deren Arbeit setzten viele der Angehörigen ihre Hoffnung.

Doch nicht erst seit dem Amtsantritt von Präsident Iván Duque im August 2018 haben diese Hoffnungen einen Dämpfer erhalten. Erst fehlte der gesetzliche Rahmen für die Gründung der Unidad de Búsqueda de Personas De­saparecidas (UBPD), der Einheit für die Suche nach Verschwundenen. Dann nahm sie sehr verspätet ihre Arbeit auf, aber nur mit reduzierter Kraft. Ende 2018 saß die Direktorin Luz Marina Monzón mit gerade einmal 14 Angestellten im Büro in Bogotá, obgleich es zu diesem Zeitpunkt bereits 261 der ursprünglich vorgesehenen 522 Mitarbeiter hätten sein sollen. Der einfache Grund: Es fehlte das Geld. Mittlerweile ist das Personal der UBPD auf 59 Menschen angewachsen, aber sie wird auch 2020 nicht auf ihre Sollstärke kommen, sondern deutlich kleiner bleiben als ursprünglich geplant. Für die Opfer ist das eine herbe Enttäuschung. Das gilt auch für die verzögerte Implementierung der JEP und die Arbeit der Wahrheitskommission (Jungle World 20/2019). Für Letztere steht ebenfalls deutlich weniger Geld zur Verfügung als ursprünglich kalkuliert. Der Vorwurf, die Regierung Duques hintertreibe den Friedensprozess, wird immer lauter.

So weit will Sánchez Escobar nicht gehen, aber sie ärgert sich, dass das Thema Erinnerung in der polarisierten politischen Debatte zu kurz kommt. »Erinnerung muss von unten kommen. Die Museen gehören allen, müssen unabhängig sein. Erinnerung braucht Freiraum«, sagt die Juristin. Sie hat sich mit der Geschichte der Justiz und jener der Frauen in der kolumbianischen Opferbewegung wissenschaftlich beschäftigt. Deren Bedeutung ist auch im Museum kaum zu übersehen, wo nicht nur die Madres de la Candelaria auftauchen, sondern auch Fabiola ­Lalinde.

Fabiola Lalindes Sohn wurde 1984 ermordet. Seither kämpft sie um Aufklärung.

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Knut Henkel

Allein gegen Staat und Armee
Die 82jährige ist eine Berühmtheit der Opferbewegung in Kolumbien. Sie hat nach dem Verschwinden ihres Sohnes Luis Fernando Lalinde im Oktober 1984 nachgefragt: bei der Armee, in den ­zuständigen Ministerien, sie hat den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen und nie lockergelassen. Letztlich ist sie selbst auf die Suche nach ihrem Sohn gegangen. »Ein Einzelfall, der Beispiel und Ansporn für alle Suchenden in Kolumbien ist oder sein sollte«, sagt Sánchez Escobar.

Lalinde hat sich ihr halbes Leben lang engagiert – sie wollte ein Zeichen setzen. Vor ihr auf dem Tisch liegen zwei Ergebnisse ihres Einsatzes, eine DVD mit dem Dokumentarfilm über ihre hartnäckigen Suche und ein Buch, das gerade erschienen ist. »Das ist das Vermächtnis von Luis Fernando und zugleich mein Beitrag, um das gewalt­same Verschwindenlassen in Kolumbien zu ächten. Es soll den Menschen Mut machen, die mein Schicksal teilen«, sagt die zierliche Frau mit fester Stimme. Lalinde lebt seit einem Jahr in einem Altersheim im Stadtteil Laureles von Medellín. Die Arbeit hat sie an ihre Tochter Adriana übergeben, die ihr Vermächtnis bewahren soll, darunter das kleine Zentrum der Erinnerung, das am Todesort von Luis Fernando Lalinde entstanden ist und an dem eine kleine Ausstellung über das Leben des 26jährigen Soziologiestudenten informieren soll.

»Am 2. Oktober 1984 verließ Luis Fernando unser Haus im Stadtteil Laureles, um die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung von Präsident Belisario Betancur und der Guerilla­gruppe EPL als Beobachter zu begleiten«, erinnert sich Lalinde. Die fanden damals im Südosten des Verwaltungsbezirks Antioquia statt, in der Umgebung von Jardín, einer Gemeinde rund 130 Kilometer südöstlich von Medellín. Als politischer Kommissar hatte Luis Fernando Lalinde von der marxistisch-­leninistischen Jugendorganisation der Kommunistischen Partei den Auftrag, sich ein Bild der dortigen Situation zu machen. Diese stellte sich deutlich ­anders dar als erwartet, denn das Camp des EPL wurde von Regierungstruppen attackiert.

Das Museum »Haus der Erinnerung« in Medellín.

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Knut Henkel

»Die waren ohne Rangabzeichen unterwegs, und als wir einen toten Soldaten untersuchten, wussten wir auch, warum«, erinnert sich Jon Restrepo. Er war damals für den EPL in der Gemeinde Jardín tätig. In der Brusttasche des ­toten Regierungssoldaten, eines Capitán, fanden er und seine Genossen den Angriffsbefehl, eine Karte mit den Koordinaten des Guerillacamps und persönliche Dokumente. »Die Einheit hatte den Befehl, uns anzugreifen, und das veränderte auch für Luis Fernando die Situation«, sagt der ehemalige Guerillero im Dokumentarfilm »Operación Cirirí. Persistente, insistente e incómoda« (Operation Cirirí. Beharrlich, insistierend und unbequem), den Fabiola Lalinde mit Hilfe von Experten des CNMH drehen ließ. Ende 2017 war der Film fertig – und das Militär musste für ihn bezahlen. »Das war Teil der Wiedergutmachungsleistungen, die ich von der Armee und der Regierung eingeklagt habe«, erklärt Lalinde mit Stolz. »Ich wollte den vorsätzlichen Mord an meinem Sohn, den ich bewiesen habe, nicht ungesühnt lassen.«

Akribisch, hartnäckig und erfolgreich
Ihre Recherchen betrieb Lalinde zusammen mit ihren Söhnen Jorge und Mauricio Lalinde, den jüngeren Brüdern Luis Fernandos, im Dorf El Verdún und dessen Umgebung, wo dieser zum letzten Mal gesehen worden war. Die drei haben Zeugen ausfindig gemacht und so peu á peu den Ablauf der Ereignisse rekonstruiert. So fanden sie heraus, welche Einheit für die Verhaftung, die Folter und den Mord an Luis Fernando Lalinde verantwortlich war. Schließlich machten sie den Ort ausfindig, an dem die Leiche von Luis Fernando als unbekannter Guerillero »N. N. Jacinto« verscharrt worden war.

»Ich wollte den vorsätzlichen Mord an meinem Sohn, den ich bewiesen habe, nicht ungesühnt lassen.«

Die Armee stritt alles ab. Fabiola Lalinde zog, unterstützt vom Menschenrechtskomitee von Medellín, vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José. Dort wurde der kolumbianische Staat wegen gewaltsamen Verschwindenlassens angeklagt. So etwas hatte es bis dahin in Kolumbien noch nicht gegeben. Für die hartnäckige Frau hatte das Konsequenzen. Sie verbrachte zwei Wochen wegen Drogenbesitzes – der fingiert war – im Gefängnis und wurde stigmatisiert. Sie ließ trotzdem nicht locker. Im April 1992 wurde das Grab des unbekannten Guerilleros Jacinto geöffnet und der Schädel ­gefunden. Doch es dauerte weitere vier Jahre, bis ein DNA-Test ­Gewissheit brachte: Der unbekannte Guerillero war Luis Fernando Lalinde.

Der Rest ist eine Kette von Prozessen, die Fabiola Lalinde auf internationaler und nationaler Ebene anstrengte, bis sie letztlich das bekam, was sie wollte: eine offizielle Entschuldigung sowie die Übernahme der Kosten für die Dreharbeiten des Dokumentarfilms und des kleinen Erinnerungszentrums in dem Dorf El Verdún, wo ihr Sohn starb. »Um die kleine Gedenkstätte kümmert sich meine Tochter Adriana, mein Kampf ist zu Ende«, sagt Lalinde. Die wichtigsten Belege, die ihren über 34 Jahre währenden Kampf für Gerechtigkeit dokumentieren, hat sie kürzlich an die Bibliothek der öffentlichen Universität von Medellín überstellt. »Ich will, dass die Studenten sie nutzen können. Den staatlichen Institutionen der Erinnerung vertraue ich nicht. Der neue Direktor des Nationalen Zentrums für historische Erinnerung (CNMH) ist dafür das beste Beispiel«, so Lalinde. Der heißt Rubén Darío Acevedo und ist ein konservativer Wissenschaftler, der mehrfach den Bürgerkrieg negiert hat. Ein Grund, weshalb gleich mehrere Opferorganisationen ihre Dokumente vom CNMH zurückverlangten, und ein weiterer ­Beleg dafür, dass Aufklärung und Erinnerung in Kolumbien bei der Regierung nicht gerade hoch im Kurs stehen. Für Frauen wie Lalinde und Gaviria ist das alles andere als neu.