Toma Luntumbue, Kunsthistoriker, im Gespräch über die Wiedereröffnung des Afrika-Museums Tervuren bei Brüssel

»Tervuren ist kein Sonderfall«

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Interview Von

Bis heute brüstet sich das Museum mit seinen 120 000 Ausstellungs­stücken …
Genau, und auf diesen Reichtum sollte die Ausstellung aufbauen. Jede Abteilung sollte die Highlights dessen beitragen, was sie in ihren Sammlungen hatte. An diesem Konzept ändert sich nichts dadurch, dass man das Gespräch mit einigen Mitgliedern der afrikanischen Community in Brüssel führt.

Nun hat in Frankreich der Savoy-Sarr-Bericht eine gewaltige Diskussion über genau solche Sammlungen ausgelöst. Wird Belgien in der Lage sein, dieser Diskussion um die Rückgabe von Kulturgütern auszuweichen?
Das Museum stellt sich hin und sagt: »Wir können nicht mit Leuten diskutieren, die von Wut getrieben sind.« Was heißt das denn bitte? Dass man nur mit Leuten diskutiert, die mit allem ein­verstanden sind. Oder zumindest mit Leuten, mit denen sich ein Konsens herstellen lässt.

In der Beratungsgruppe des Museums, Comraf, sitzen aber hauptsächlich aus Afrika stammende Vertreter.
Comraf ist nicht unabhängig, weil auch Vertreter des Museums dazu gehören, das heißt, die afrikanischstämmigen Vertreter befinden sich in einem Loyalitätskonflikt. Das Museum hat nicht den Mut gehabt, diesen Leuten gedankliche Unabhängigkeit zu geben.

Was wäre denn eine mutige Entscheidung gewesen?
Die mutigste Entscheidung wäre sicher gewesen, das Museum zu schließen. Weil dieses Modell nicht mehr zur heutigen Gesellschaft passt.

Wäre eine Position wie diejenige, die in Frankreich im Savoy-Sarr-Report zum Ausdruck kam – Rückgabe aller geraubten Kulturgüter innerhalb von fünf Jahren – in Belgien überhaupt diskutabel?
Kulturgüter zurückzugeben, erfordert den Mut, die Debatte mit der anderen Seite zu führen, den Mut anzuerkennen, dass auch die Afrikaner Anrecht auf ihr kulturelles Erbe haben. Das Argument, die kongolesischen Institutionen seien nicht in der Lage, die Sammlung angemessen unterzubringen, sie hätten keine geeigneten Bauwerke, sie hätten nicht die wissenschaftliche Expertise, ist schlicht paternalistisch. Natürlich hat der Kongo im Moment dringende Probleme zu bewältigen: Wahlen, die Neuorganisierung vieler Sektoren der Gesellschaft, aber als Kunsthistoriker werde ich weiterhin versuchen, im Kongo ein Bewusstsein für diese Frage herzustellen – um die Rückgabe vorzubereiten, ohne dass das dazu führt, dass dort die Institutionen neu geschaffen werden, die es jetzt in Belgien gibt.

Dieser Prozess braucht Zeit – was sollte in der Zwischenzeit passieren?
Man müsste in Belgien eine Institution schaffen, die alleine die Kolonialgeschichte behandelt: ein Forschungsinstitut mit kongolesischen und belgischen Wissenschaftlern und natürlich internationalen Kollegen, wo es nur um den kolonialen Aspekt geht, den man wirklich mit all seinen Wider­sprüchen studieren müsste.

Wäre dafür das Museumsgebäude in Tervuren nutzbar oder ist es zu stark belastet?
Das Gebäude ist ein steinernes Buch. Es trägt die genetischen Spuren der Weltausstellungen, des Imperialismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es erinnert zu sehr an all das, sogar dann, wenn man das Innere ver­ändert; an der Außenhaut, dem Park und all dem, sieht man immer noch den physischen Abdruck, den der Imperialismus Leopolds II. hinterlassen hat. Tervuren ist auch nicht das einzige Kolonialmuseum – all unsere Museen müssen dekolonialisiert werden. Man kann doch keine Kinder spazieren führen in einer Umgebung, in der Minderheiten, Arme, Frauen als minderwertig dargestellt werden, während der Adel und die Angehörigen der Königshäuser geschönt dargestellt werden und Reichtümer anhäufen. Mit dieser elitären Kunstauffassung muss Schluss sein, die Kunst muss demokratisiert werden.

Leisten moderne Museen das nicht?
Unsere Städte wie unsere Museen hängen der neoliberalen Idee des ständigen und allgegenwärtigen Entertainment an, das die Menschen am Denken hindert. Dazu gehört, dass man die Diskurse der Minoritäten und all der randständigen Kreativen aufgreift und sie dem System einverleibt. Dabei spielen die Museen eine Schlüsselrolle. Museen präsentieren heute ihre Objekte wie im Apple Store – sehr sexy, mit dem coolsten Design. Tatsächlich kommt darin nur die Beschränkung aufs Wirtschaftliche zum Ausdruck.

Im Apple Store wie im Kolonial­museum besteht ja ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Kunden und Geschäftsleitung, dass man lieber nicht über den womöglich zweifelhaften Ursprung der dort präsentierten Objekte sprechen möchte.
Absolut. Das bedeutet, wenn man Museen dekolonialisiert, muss man sich im Klaren sein, dass Tervuren kein Sonderfall ist. Es geht vielmehr um die Frage, was heute unser Verhältnis zum Kulturerbe, zur Kultur ganz allgemein ist. Die Intellektuellen, die Kreativen haben die Aufgabe, die Konventionen zu durchbrechen, die den Raum der Kunst, der öffentlichen Debatte, der kritischen Distanz definieren, sie müssen Ideen für neue Kultureinrichtungen entwickeln. Sonst werden sie zu Animateuren des bestehenden Systems, und die Kunst verliert ihre Kraft.