Der erste tote Rom
Die Gewalt gegen Roma in der Ukraine hat eine neue Stufe erreicht. In der Nacht auf den 24. Juni tötete eine Gruppe Unbekannter den 24jährigen Rom David Pap mit Messerstichen, als sie das Zeltlager am Stadtrand von Lwiw angriff, in dem Pap und viele weitere Roma lebten. Mindestens vier weitere Personen wurden verletzt, drei von ihnen mit Stichverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, darunter ein zehnjähriger Junge. Die Polizei nahm sieben mutmaßliche Angreifer fest und stellte mögliche Tatwerkzeuge sicher, die örtlichen Behörden sagten den Betroffenen Schutz zu. Der Überfall ist der folgenschwerste in einer Serie, die seit April andauert.
Im April stellte die Gruppe C14 (in der Ukraine auch Sič genannt) in einer Siedlung lebenden Roma im Naturreservat Lysa Hora in Kiew ein Ultimatum, das Gelände binnen eines Tages zu verlassen. Am 20. April filmten sich bewaffnete und maskierte Mitglieder der Gruppe dabei, wie sie einige Verbliebene angriffen, verjagten und ihre Zelte in Brand steckten. Unter den Angegriffenen befanden sich auch Kinder. Die Täter trugen Armbinden von C14, einer mit der Partei Swoboda verbundenen extrem rechten Gruppe. Das ukrainische Ministerium für Jugend und Sport vergab eine Förderung von etwa 30 000 Euro an C14 – nach den Vorfällen. Das Ministerium sagte dazu, es unterstütze nicht die Gruppe oder die Partei Swoboda, sondern nur einzelne Projekte wie ein Jugendzeltlager.
Am 10. Mai tauchten im Dorf Rudne in der Region Lwiw etwa 30 maskierte Männer auf und drangen in die Hütten von Roma ein, zogen Menschen aus ihren Betten, schlugen sie, setzten die Behausungen in Brand und zerstörten den Besitz der Angegriffenen, woraufhin diese flohen. Die Polizei nahm am Ort des Geschehens niemanden fest. Der nächste bekanntgewordene Überfall ereignete sich in der Nähe der westukrainischen Stadt Ternopil. Am 22. Mai zwangen mit Schusswaffen und Baseballschlägern bewaffnete Männer in Welyka Beresowyzja Roma-Familien zur Flucht in den Wald und zündeten deren provisorische Behausungen an. Die Angreifer gaben Schüsse ab, drei Menschen wurden dem European Roma Rights Centre (ERRC) zufolge verletzt. Sieben Erwachsene und 30 Kinder verloren ihren Besitz und ihre Dokumente. Zeugenberichten zufolge wurden die Roma im Krankenhaus abermals angegriffen.
Der vierte Fall geht auf das Konto einer paramilitärischen Organisation, der seit Januar bestehenden Miliz »National Druschina«, die aus dem rechtsextremen Bataillon »Asow« hervorgegangen ist. Offiziell sieht die Organisation ihre Aufgabe darin, die ukrainische Exekutive handfest zu unterstützen, etwa durch Patrouillen. Der Miliz werden gute Kontakte sowohl ins Innenministerium der Ukraine als auch zu deutschen Neonazis etwa von der Partei »Der III. Weg« und der NPD nachgesagt. Bereits im Januar hatte die Miliz in einem Manifest angekündigt, gegen Drogenhändler, illegale Casinos und Wilderer vorzugehen und für »den Schutz der öffentlichen Ordnung, die Verteidigung der Ukraine, den Schutz der kleinen und mittleren Unternehmen« sowie für eine »gesunde Lebensweise« zu kämpfen. Bevor sie am 8. Juni im Holosijiwskyj-Park in Kiew einen Überfall verübte, hatte sie ihren Opfern auf Facebook gedroht. Die Zerstörung der Behausungen mit Äxten und Vorschlaghämmern wurde live ins Internet übertragen, dabei drangsalierten die Angreifer die wenigen verbliebenen Frauen.
Vor den Augen der Polizei riefen Mitglieder der Miliz: »Ehre der Nation! Tod den Feinden!« Die Polizei gab später an, das Camp sei leer gewesen, als die Miliz angekommen sei, deshalb habe es weder Opfer noch Festnahmen gegeben und es werde daher kein Strafverfahren eröffnet.
Im Juni wandten sich mehrere Menschenrechtsgruppen in einem offenen Brief an die ukrainische Regierung und forderten die Aufklärung der Attacken auf Roma. Extrem rechte Gruppen haben in diesem Jahr bereits mindestens 24 Angriffe verübt. Das offene Vorgehen und die mediale Inszenierung der Täter machen deutlich, dass diese auf eine nachlässige Strafverfolgung spekulieren und hoffen, in der Öffentlichkeit Sympathien zu gewinnen. Den Angriffen gehen häufig Beschwerden von Anwohnern über Kriminalität der Roma voraus.
Der in Kiew lebende Soziologe Wolodymyr Ischtschenko sieht einen Zusammenhang zwischen der Stagnation an der Front im Osten des Landes und der Angriffswelle: »Junge Nationalisten brauchen Ersatz für radikales Handeln, also werden sie hier aktiv.« Einige nationalistische Organisationen sprächen von »inneren Feinden« in der Ukraine, womit neben den in jüngster Zeit angegriffenen Roma, Dissidenten verschiedener Art, Kritikerinnen und Kritiker der offiziellen Darstellung der Maidan-Proteste und des Kriegsgeschehens sowie Linke gemeint seien. Ischtschenko erwartet, dass nationalistische Akte weiter zunehmen, »zumindest bis zu den Wahlen im nächsten Jahr«. Es gebe einen regelrechten Wettlauf darum, wer der größte Patriot sei. »Die staatlichen Autoritäten haben kein wirkliches Interesse daran, diese Gruppen zu bekämpfen, abgesehen von einigen inszenierten Fällen.« Als Ausnahme betrachtet Ischtschenko auch die Pride Parade, deren 5 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in diesem Jahr bereits zum dritten Mal und mehr denn je vor Angriffen geschützt wurden. Junge Männer, die ihre geplanten Hetzjagden »Safaris« nennen und im Internet zu Störungen und Gewalt aufgerufen hatten, wurden von mehreren Tausend Polizisten eingekesselt und teils festgenommen.
Für Anna Chwyl, Mitglied der Organisation »Feministischer Workshop«, ist die Präsenz auf der Straße bei einer Veranstaltung wie der Pride Parade symbolisch sehr bedeutend. Sie wünscht sich ein ähnliches repräsentatives Vorgehen in Lwiw, wo rechtsextreme Jugendliche die von ihr mitorganisierte feministische Demonstration am 8. März und eine Ausstellung angriffen und mehrere Menschen teils schwer verletzten. Landesweit nähmen immer mehr Menschen an feministischen Protesten teil, und auch in Lwiw seien an diesem Tag doppelt so viele Menschen dem Aufruf gefolgt als noch im Vorjahr, sagt Chwyl. Sie verweist auf den komplexen sozialen Transformationsprozess, der die ukrainische Gesellschaft verändere und zwei Seiten habe. Tatsächlich seien in den vergangenen sechs Monaten vermehrt rechtsextreme Angriffe in diversen Städten verübt worden. Doch an diesen Orten gebe es auch regere Aktivitäten von Menschenrechtsgruppen, Feministinnen und LGBT als je zuvor. Internationale und insbesondere linke Medien übersähen diesen Aspekt. »Es ist wichtig, die Bemühungen einer wachsenden Menge von Menschen zu würdigen, die ihre Zeit investieren, Risiken in Kauf nehmen und ihre Sicherheit aufs Spiel setzen, um Werte zu verteidigen, an die sie glauben, wie Menschenrechte und die Meinungsfreiheit«, so Chwyl.