Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, im Gespräch über Mobilität und die Verantwortung der Automobilkonzerne

»Mobilität darf kein Privileg werden«

Verbote lösen nicht die ökologischen Probleme des motorisierten Verkehrs. Das auf dem Verbrennungsmotor basierende Verkehrssystem gehöre auf den Prüfstand, findet Michael Müller von den Naturfreunden. Die »Jungle World« sprach mit Müller über kostenlosen Nahverkehr, die Verantwortung der Automobilkonzerne und den Zusammenhang von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit.
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Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ermöglicht es, Fahrverbote für bestimmte Orte zu verhängen. Ist das aus Sicht der Naturfreunde eine gute Nachricht?
Das eigentliche Problem ist ja ein anderes. Unsere Form der Mobilität, ganz gleich ob Diesel oder Benziner, bedient sich noch immer der Dinosauriertechnik des vergangenen Jahrhunderts. Damit werden wir keine Zukunft haben. Wenn man die Feinstaubproblematik beim Diesel sieht, muss man nämlich auch sehen, dass der Benziner rund 30 Prozent mehr Kraftstoff verbraucht und damit einen deutlich höheren CO2-Ausstoß hat. Man muss sich vor Augen halten, dass in Deutschland auf 1 000 Einwohner ungefähr 580 Fahrzeuge kommen. In großen Teilen der Welt mit hohem Bevölkerungswachstum sind es noch unter 100. Wir müssen stattdessen zu einem öffentlichen ­Verkehrssystem kommen und, wo immer es geht, die autogerechte Stadt ­zurückbauen.

 

»Die Deutschen dominieren auch in der Vertretung der europäischen Automobilindustrie. Die Vorsitzenden des Automobilverbandes waren fast immer Vertreter aus Deutschland.«

 

Ein Vorschlag, der vor kurzem viel diskutiert wurde, war der kostenlose öffentliche Nahverkehr. Könnte das eine Lösung sein?
Schon Anfang der siebziger Jahre hat man begonnen, darüber nachzudenken, den öffentlichen Nahverkehr für alle kostenlos zugänglich zu machen. Aber das Konzept kann nur funktionieren, wenn man vorher auch massiv in den Ausbau der öffentlichen Verkehrs­systeme investiert. Die sind heute in einem oftmals derart schlechten Zustand, dass so eine Idee gar nicht umzusetzen wäre. Allein in Berlin ist es ja zu manchen Tageszeiten eine Katastrophe, mit der Bahn zu fahren. Es ist also keine Lösung, wenn man nicht in eine neue Infrastruktur investiert. In der Infrastrukturdebatte geht es ja momentan nur um Reparatur des Bestehenden. Es wird viel zu wenig darüber nachgedacht, wie die Infrastruktur der Zukunft aussehen sollte.

Wie könnte sie denn aussehen?
Es gibt tatsächliche einige interessante Papiere dazu, wie zum Beispiel die »Agora Verkehrswende« oder auch die Berichte der Klima-Enquete. Die ­haben nie einfach nur preisliche Maßnahmen gefordert, sondern den Umbau der Strukturen. Mit Mobilität sind ja auch Chancengerechtigkeit und ­Freiheit verbunden. Mobilität darf am Ende nicht wieder zu einem Privileg werden, sondern es geht um ein Gerechtigkeitsthema für alle.

Ist das Leipziger Urteil denn sozial gerecht?
Natürlich nicht. Andererseits sind die Fakten ja auch schon seit Anfang der neunziger Jahre bekannt. Bereits damals hatte der Sachverständigenrat für Umweltfragen präzise auf die Gefahren bei Dieselmotoren hingewiesen. Und der Diesel ist ja in Deutschland auch nicht das Auto der kleinen Leute, wie zum Beispiel in Frankreich oder Italien. Vor allem die großen Vorstandspanzer sind fast alles Dieselfahrzeuge. Wir müssen natürlich zu Gerechtigkeit kommen. Das heißt aber, wir müssen zu Fahrzeugen kommen, die nicht bei 17 oder 18 Prozent Wirkungsgrad liegen. Die müssen beim Einsatz der Energie sehr viel effizienter werden. Das ist möglich.

Die Automobilkonzerne haben daran offenbar kein sehr großes Interesse. Ebenso wenig wie an einer Nachrüstung für Dieselfahrzeuge.
Wenn das Verursacherprinzip weiter gelten soll, dann müssten die Konzerne auch für den eingetretenen Schaden aufkommen. Aber es gibt in der Industrie die Tendenz, sich dem Vorsorge- und Verursacherprinzip zu entziehen. Zuletzt ist das ja bei der Atomindustrie so geschehen. Auch die kommen nicht in vollem Umfang für die verursachten Schäden auf.

Welche Handhabe hat die Politik, das Verursacherprinzip anzuwenden?
Die Verbindungen zwischen Großindustrie und Politik sind relativ eng. Das Druckpotential ist hoch. Wenn dann sofort viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, ergibt sich da ein Problem. Aber es wären schon Lösungen möglich, die dürfen dann aber nicht zu Lasten der Autofahrer und der kleinen Werkstätten gehen.

Die EU-Kommission hat Deutschland wegen zu starker Luftverschmutzung verwarnt und prüft nun die Maßnahmen der Bundes­regierung dagegen. Ist das Urteil eine Antwort auf die Rüge aus Brüssel?
Schon seit Jahren gibt es einen Kampf der deutschen Automobilindustrie ­gegen die EU. Das hat nicht nur ökologische Gründe, sondern es sind auch Machtkämpfe mit den großen italienischen und französischen Automobilherstellern. Die Deutschen dominieren auch in der Vertretung der europäischen Automobilindustrie.

Die Vorsitzenden des Automobilverbandes waren fast immer Vertreter aus Deutschland. Das ist so ein Filz, der mal aufgearbeitet werden sollte. Der europäische Konflikt ist also ein brutaler Verdränguungswettbewerb. Man sollte besser auf ­Gesundheitsschutz achten als auf den europäischen Konflikt.

Und die Bundesregierung?
Der Bundestag muss das Thema Verkehrswende jetzt endlich systematisch behandeln. Es sollte möglichst schnell eine Enquete-Kommission geben, die sich des Themas annimmt, damit es zu einer breiten Debatte in Politik und Zivilgesellschaft kommt. Schon in den Koalitionsgesprächen hätte man diese Infrastukturproblematik behandeln sollen. Da sind wir in Deutschland weit hinter dem zurück, was sozial und ökologisch notwendig wäre.

Die AfD hat das Urteil instrumentalisiert und als Angriff der Eliten auf die Bürger gewertet. Wird die AfD davon profitieren?
Die politische Rechte hat sich ja in der Geschichte oft schon des Themas ­Natur und Heimat angenommen und es missbraucht. Im sogenannten Dritten Reich bezeichnete man die Autobahn als die Krönung der Natur. Wir müssen natürlich zusehen, das Natur und ­Klimaschutz nicht braun werden. Die Gefahr ist gegeben. Deshalb muss man umso mehr darauf achten, dass soziale und ökologische Gerechtigkeit als Einheit gesehen werden.