Albanische Nationalisten fordern die Schaffung von »Großalbanien«

Es kommt auf die Größe an

Auf dem Balkan werden Staatsgrenzen wieder in Frage gestellt. Albanische Nationalisten fordern die Schaffung Großalbaniens.

In den Souvenirläden Tiranas, Prištinas und Kumanovos werden Artikel mit dem Umriss eines Landes verkauft, das es zwar nicht gibt, das sich albanische Nationalisten aber wünschen. Sie fordern die Schaffung von »Großalbanien«, welches auch den Kosovo, weite Teile Mazedoniens sowie Teile Serbiens, Griechenlands und Montenegros umfassen soll.

Ein großalbanischer Staat, der viele dieser Gebiete einschloss, existierte zwischen 1941 und 1944 als Satellitenstaat unter Mussolini und Hitler. Nach der Befreiung einigten sich die Partisanenanführer Tito und Enver Hoxha auf die Vorkriegsgrenzen, in denen Albanien bis heute existiert. Doch über die Hälfte der ethnischen Albaner lebt außerhalb der Grenzen Albaniens. Laut Verfassung ist der Kosovo zwar ein Vielvölkerstaat, aber die Albaner machen rund 90 Prozent der Bevölkerung aus. Im benachbarten Mazedonien stellen die Albaner fast ein Drittel der Bevölkerung.

Der Historiker Oliver Schmitt spricht von einem »panalbanisch geprägten Kommunikationsraum«, der sich im vergangenen Vierteljahrhundert gebildet habe. Die Verbesserung der Verkehrswege, die Ausbildung eines grenzübergreifenden Mediensystems und die Zusammenarbeit zwischen politischen Akteuren hätten daraus eine »Albanosphäre« werden lassen, zu der auch die communities der Diaspora in Westeuropa und den USA zählen.

Albanien, Mazedonien und Kosovo gehören zu den wirtschaftlich schwächsten Staaten Europas und sind von politischer Instabilität geprägt. Deshalb und wegen der inneren Probleme der EU kommt der von den meisten politischen Parteien gewünschte Beitrittsprozess nicht voran. Der albanische Ministerpräsident Edi Rama von der Sozialistischen Partei machte im Mai Druck und sagte: »Sollte sich die EU einer Erweiterung auf dem Balkan verweigern, könnten sich die Albaner gezwungen sehen, ihre Vereinigung statt in der ›Großen Union‹ (gemeint ist die EU, Anm. d. Red.) in einer ›Kleinen Union‹ zu vollziehen.« Viele sahen darin eine Drohung: Rama stelle die Grenzen auf dem westlichen Balkan zur Disposition und spiele auf »Großalbanien« an. Für ihn ging es dabei vor allem um den Wahlkampf. Diese Rhetorik half ihm, einen klaren Sieg bei den Parlamentswahlen im Juni zu erzielen.

Edi Rama bestärkte auch die albanischen Parteien in Mazedonien darin, mehr nationale Sonderrechte zu fordern. Mazedonische Nationalisten behaupteten, die Albaner im Land wollten sich abspalten, um ein Großalbanien zu schaffen. Es waren Gerüchte, die von der russischen Regierung nahestehenden Medien und dem russischen Außenministerium genährt wurden. Es hat jedoch keine albanische Partei in Mazedonien ein Großalbanien gefordert und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie das beabsichtigen.

Das Thema Großalbanien wurde nicht von den mazedonischen Albanern, sondern von der rechten mazedonischen Partei VMRO-DPMNE auf die Tagesordnung gesetzt. Diese wollte sich trotz ihrer Wahlniederlage an der Macht halten und war dafür bereit, einen Konflikt zwischen Mazedoniern und Albanern im Land zu schüren. Nach einer Attacke auf das Parlament im April, bei der über 100 Journalisten sowie Abgeordnete der Sozialdemokraten und der albanischen Minderheitenparteien verletzt wurden, beruhigte sich die Lage in Mazedonien wieder. Der Sozialdemokrat Zoran Zaev wurde mit Hilfe mazedonisch-albanischer Parteien zum Ministerpräsidenten gewählt und sagte daraufhin im Gespräch mit der Jungle World: »Ich bin stolz, dass wir die Unterstützung so vieler albanischer Wähler haben. Wir wollen ein Mazedonien schaffen, dass für all seine Bürger da ist.«

Die sozialdemokratische SDSM erhielt viele Stimmen von mazedonischen Albanern und brach damit das zuvor ethnisch getrennte Parteiensystem auf. Die SDSM ist die erste Partei im unabhängigen Mazedonien, die sowohl von der mazedonischen Mehrheitsbevölkerung als auch von der albanischen Minderheit gewählt wird. Der Versuch der rechten Nationalisten, die Gesellschaft zu spalten, um sich nach der Wahlniederlange an der Macht zu halten, ist gescheitert.
Im Kosovo ist die Situation anders. Hier fordert die linksnationalistische Vetvendosje (Selbstbestimmung, VV) eine Vereinigung mit Albanien. Mit 26,7 Prozent konnte sie ihren Stimmenanteil bei den Wahlen im Juni verdoppeln. Die Strategie, den etablierten Parteien vorzuwerfen, dass sie das Kosovo an den Westen »verkauften« und sich dabei bereicherten, erwies sich als erfolgreich. VV bezeichnet die etablierten Parteien als Verräter an der »albanischen Sache«.

Die etablierten Parteien im Kosovo enthielten sich großalbanischer Rhetorik bislang, weil sie auf die Unterstützung der USA, der EU und der Nato angewiesen sind und diese es nicht dulden, dass auf dem westlichen Balkan wieder Staatsgrenzen zur Disposition gestellt werden. Die sogenannte internationale Gemeinschaft hat großen Einfluss auf die Politik im Kosovo und versucht, eine Regierungsbeteiligung von VV zu verhindern. Doch das stärkt die Position der Linksnationalisten. Je mehr Stimmen sie gewinnen, desto schwieriger wird es, sie aus der Regierung herauszuhalten.

Ihrem Selbstverständnis zufolge ist VV eine linke Partei, die sich für soziale Gerechtigkeit und gegen Korruption einsetzt. In den Augen der EU handelt es sich um eine nationalistische Partei, welche die Grenzen auf dem Balkan nicht akzeptiert und einen Zusammenschluss mit Albanien fordert.

Kritiker behaupten, die Situation im Kosovo sei nicht trotz, sondern wegen der westlichen Politik so schlecht. Demnach sind die USA und die EU mit der Verwaltung des kleinen Territoriums gescheitert, weil sie ihre Politik auf bestehende Machtstrukturen und somit auf Warlords der UÇK aufgebaut haben, denen eine Nähe zum organisierten Verbrechen nachgesagt wird. Die EU hat es trotz Milliardeninvestitionen nicht geschafft, allen 1,8 Millionen Einwohnern des Kosovo fließendes Wasser zu bringen – ein Versagen, dass die Beteuerungen, mit einem ähnlichen politischen Modell nun Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen, lächerlich wirken lässt.

Im Norden des Kosovo leben noch 60 000 Serben. Sie stellen die Bevölkerungsmehrheit auf rund 20 Prozent des kosovarischen Territoriums und werden von Serbien alimentiert, das den Kosovo bis heute nicht anerkennt und weiterhin als sein Staatsgebiet betrachtet. Die meisten Serben im Nordkosovo streben nach einem Anschluss an Serbien oder zumindest nach Autonomie. Der serbische Außenminister Ivica Dačić sorgte bei vielen EU-Vertretern im August für Kopfschütteln, als er vorschlug, den hauptsächlich von Serben bewohnten Norden vom Rest des Landes zu trennen und im Gegenzug den Rest des Kosovo anzuerkennen. Sein Kalkül: Serbien bekommt einen Teil des Kosovo und darüber hinaus die Hälfte Bosnien-Herzegowinas. Denn wenn die Albaner im Kosovo sich Albanien anschließen dürften, dann könne man es den Serben in Bosnien und Herzegowina auch nicht verwehren, unabhängig zu werden und sich Serbien anzuschließen. Es wird in den kommenden Jahren weder ein Großserbien noch ein Großalbanien entstehen, aber der Chauvinismus der Nationalisten auf beiden Seiten wird erhalten bleiben.

Im Kosovo hat sich in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeit kein eigenes Nationalbewusstsein herausgebildet. Die kosovarische Flagge weht nur an Regierungsgebäuden, an den Häusern der Bürger hängt die rote Flagge mit dem schwarzen Doppeladler – die Flagge Albaniens. Die eigene Nationalhymne kennen nur die wenigsten Kosovo-Albaner. Im Kosovo ist Großalbanien noch sehr präsent in den Köpfen.

Eine realistische Option ist Großalbanien nicht, da Grenzverschiebungen, die kriegerische Auseinandersetzungen mit sich bringen könnten, auf den Widerstand der EU und der Nato stoßen würden. Doch man kann von der großalbanischen Idee profitieren – zumindest als Politiker und als Souvenirhändler.