Die G-20-Proteste haben der Linken ihre eigene Schwäche vor Augen geführt

Willkommen im Wahnsinn

Seit dem Hamburger G20-Gipfel ist Deutschland ein ganzes Stück ­postfaktischer geworden.

Hamburg war mehr als Randale, so viel vorweg. Die Rauchschwaden der verbrannten Autos und der Barrikadenfeuer im Schanzenviertel haben inzwischen so einiges verdeckt. Da war der Gipfel, aber was dort passiert ist, hat ja sowieso die wenigsten so richtig interessiert. Da war die Polizei, auf deren »wirklich heldenhafte Tätigkeit« Hamburgs regierender Bürgermeister Olaf Scholz nichts kommen lässt. Da waren die vielen unterschiedlichen Gipfelgegner, die angereisten wie die einheimischen. Tausende von zumeist jungen, irgendwie linken, irgendwie kapitalismuskritischen Menschen befanden sich in den Tagen des Gipfels auf Hamburgs Straßen, wobei die Polizei deren Zahl systematisch herunterspielte – auf der Abschlussdemonstration am Samstag meldete sie zunächst gerade einmal 20 000 Teilnehmer, die Veranstalter gaben später 76 000 an. Zu dem Zeitpunkt sprach ganz Deutschland offenbar über nichts anderes mehr als diese Krawalle. Aber Hamburg war viel mehr als das, was in Zeitungen, Talk-Shows und sozialen Netzwerken in den vergangenen Tagen diskutiert wurde. Es war der fast schon irrwitzige Versuch einer in Deutschland gesellschaftlich völlig marginalisierten radikalen Linken, den Eindruck eigener Relevanz und Geschichtsmächtigkeit zumindest für einen Moment herzustellen.

Ist es angebracht als »Ideologiekritiker«, sich einfach mit abfälligen Bemerkungen aus dem Geschehen zu ziehen?

Ob nun der Riot das »Auftauchen einer verlorenen Freiheit, von der alle wussten, dass diese Situation nur kurzfristig sein konnte« war, wie Karl-Henz Dellwo vorige Woche auf dem Blog »non.copyriot.com« behauptet hat, weiß ich nicht, bei den Plünderungen war ich nicht dabei.

Hamburg, das war irgendwie auch schön. Das klingt merkwürdig, wenn man nur die Bilder aus dem Fernsehen und dem Internet kennt. Es klingt unverantwortlich, wenn man an die teilweise schwer Verletzten denkt. Aber das Wetter war großartig, sonnig, obwohl alle Wetter-Apps quasi Fake-News über kommende Unwetter verbreitet hatten. Wenn die Polizei nicht gerade Menschen durch die Gegend jagte, prügelte und mit Wasserwerfern schoss, war es eigentlich, gerade im Schanzenviertel, noch angenehmer als sonst: keine Autos auf den Straßen, die dafür mit motivierten jungen Menschen gefüllt waren, viele schwarz bekleidet, alle sehr nett zueinander, hilfsbereit, biertrinkend, aber nicht unbedingt in der unangenehmen Art. Von »der neuen faschistischen Gewalt der Linken«, die Ulf Poschardt von der Welt in den Krawallen erkannt haben will, war wenig zu spüren. Die jungen Leute in den Straßenzügen jenseits des während der Krawalle systematisch von der Polizei abgeriegelten Schanzenviertels wirkten nicht sonderlich hasserfüllt. Auch nicht sonderlich krawallgeil. Als am Donnerstag, am Vorabend des eigentlichen Gipfels, die Polizei die autonome »Welcome to Hell«-Demonstration binnen Minuten auseinandertrieb, rannten die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer in alle Richtungen davon. Wenn man nicht gerade rannte, lief man oft etwas ziellos durch die Gegend, trank Bier vom Kiosk, rauchte unzählige Zigaretten, stieß unverhofft auf alte Bekannte sowie Autorinnen und Autoren der Jungle World. So ging das drei Tage lang.

Dabeisein ist selbstverständlich nicht alles. Auf solche Veranstaltungen gehen auch viele Leute, mit denen man unter keinen Umständen etwas zu tun haben will – der sogenannte Internationalistische Block zum Beispiel, an dem auch die antizionistische »Boykott, Divestment, Sanctions«-Gruppe teilnahm. Oder die große Pappkrake, die irgendwelche Pappnasen auf der großen Abschlussdemonstration am Samstag herumgetragen haben. Viele haben die Pappkrake erfreulicherweise nur im Internet gesehen. Sie hat eigentlich nicht einmal wesentlich das Bild der gesamten Demonstration geprägt. Und das ist gut so. Geprägt haben das Bild, wenn überhaupt, die Kurden. Die kleinen Wimpel der PKK-nahen syrisch-kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG waren die wohl meistgezeigte Symbole auf der Abschlusskundgebung. Auf der Demonstration waren mehrere Zehntausend Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven und politischen Richtungen, bestenfalls vereint darin, irgendwie gegen die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse zu sein.

Antideutsche Kritik ist auch nicht ganz spurlos an allen Organisatoren der Demonstrationen vorbeigegangen. Als Antwort auf den Streit über die Teilnahme des Internationalistischen Blocks hing das ganze lange Wochenende ein gigantisches Transparent quer über die besetzte Rote Flora, mit der Aufschrift »Gegen jeden Antisemitismus«.

Ist es da angebracht als »Ideologiekritiker«, sich einfach mit abfälligen Bemerkungen aus der Affäre zu ziehen? Verfolgt man die Kommentare dieses Mini-Milieus auf den einschlägigen Facebook-Gruppen, fragte man sich ja sonst schon hin und wieder, wie weit ein Teil des ideologiekritischen Mikrokosmos wirklich noch von jenen besorgten Bürgern entfernt ist, die in den Sozialen Netzwerken während der Krawalle Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten forderten und Gewalt gegen Journalisten hämisch kommentierten. Ist es angebracht, angesichts der einen oder anderen kraftmeierenden Selbstüberschätzung der Aufrufe gleich das hohe Lied auf den bürgerlichen Staat zu singen, wie die Gruppe »Roter Salon Leipzig« es in dieser Zeitung tat ? Fünf Generationen nach dem Erscheinen von Marx’ »Kapital« haben seine vermeintlichen geistigen Urururenkel offenbar nur wenig für dialektisches Denken übrig. Marx hat den »Kapital«-Band über den bürgerlichen Staat leider nie geschrieben, aber hätte er es, würde man dort eben auch etwas über den Doppelcharakter dieser Staatsform erfahren, als Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Erklären sich die Organe des Staates für gefährdet, werden in Bezug auf die bürgerlichen Freiheitsrechte schon mal Ausnahmen gemacht. Das wird eventuell danach wieder korrigiert, aber im Moment der Gefahr gilt die Prärogative der Exekutive nach dem Motto »Not kennt kein Gebot«.

Als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse waren die Proteste in Hamburg weniger eine Bankrotterklärung der Linken als es in der Erklärung des Roten Salons erscheint. Vielmehr haben die Gipfelproteste der Linken ihre eigene Schwäche und Marginalität schmerzhaft vor Augen geführt. Mehrere zehntausend Menschen zu mobilisieren bei einer Bevölkerung von 80 Millionen ist nicht viel, erst recht nicht, wenn obendrein noch viel Unterstützung aus dem Ausland anreist. Der kleine globale linke Aufschwung, der sich bei der Generation der Millenials zeigt, ist auch an Deutschland offenbar nicht ganz spurlos vorbeigegangen. Da ist etwas im Gange, ein frischer Luftzug wenn auch politisch diffus, meist wenig theoretisch fundiert und noch weniger mit einer konkreten Utopie versehen. Man wird dem aber nicht gerecht, wenn man sich im Gestus frustrierter alter Herren, die ja alles schon gesehen haben, gleich angewidert abwendet. Es ist wie in fast allen anderen Gesellschaften dessen, was man einmal als »Westen« bezeichnet hat, zu wenig, zu spät. Die Horden der Hölle wurden nicht erst durch die Hamburger Autonomen gerufen. Sie sind schon da.

Man könnte sich vormachen, Deutschland sei inmitten der autoritären Welle, für die heute die Politik Trumps oder Erdoğans steht, der stoische Fels in der Brandung, eine Insel liberaler Restvernunft. Aber der Wahnsinn erfasst auch hier immer weitere Kreise: Politiker von regierenden Parteien, die offensichtlich faktenunabhängig autoritären Stuss erzählen, können sich dabei des Applaus eines nicht unwesentlichen Teils der Bevölkerung sicher sein. Die Äußerungen verschiedener Politiker zu den G20-Protesten haben einen beunruhigend Trump’schen Flair. Aus Randalierern wurden »Mordbrenner«, aus einem geplünderten Supermarkt »kleine Läden« (SPD-Generalsekretär Hubertus Heil im Interview mit der Welt am 9. Juli), vor allem aber – dies hat Olaf Scholz seitdem mantrahaft wiederholt – habe sich die Polizei der Situation angemessen völlig korrekt und professionell verhalten.

Angesichts dessen, was viele in Hamburg erlebt haben, angesichts der Politik der gezielten Eskalation, die von Hamburgs Polizei in den Tagen und Wochen vor dem Gipfel betrieben würden, stellt sich die Frage: In welcher Parallelrealität lebt der Mann? Hat er die Videos und Fotos, in denen Polizisten auf bereits am Boden liegende Demonstranten einschlagen und treten, die seit dem Gipfel haufenweise im Internet kursieren, schlicht nicht zur Kenntnis genommen? Gegenüber dem NDR sagte Scholz noch am 14. Juli: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.«
Die hässliche neue Realität des Postfaktizismus, in der sich jeder die Welt so erklärt, wie es ihm gerade gefällt, wo die Anführer so lange Unsinn reden, wie sie eine genügend starke Gefolgschaft haben, um damit irgendwie durchzukommen, ist nun offenbar auch in Deutschland angekommen. In einem solchen Moment »ideologiekritisch« zu sein, kann nicht bedeuten, einfach das Feld zu räumen für die ungleiche Auseinandersetzung zwischen den schwachen linken Kräften und ihren ungleich stärkeren Widersachern.