Millionen gegen Temer
Es begann in einer Textilfabrik im Osten von São Paulo. Im Jahr 1917 traten einige Hundert Arbeiter gegen die miserablen Arbeitsbedingungen in den Streik. Die meisten der Streikenden waren Anarchosyndikalisten, die aus Italien nach Brasilien ausgewandert waren. Nachdem die Polizei einen 21jährigen Schuhmacher getötet hatte, wurde auch in anderen Bundesstaaten gestreikt. Der erste Generalstreik in der Geschichte des Landes gilt als Geburtsstunde der organisierten Arbeiterbewegung in Brasilien. 100 Jahre später ist der Generalstreik im größten Land Lateinamerikas immer noch ein probates Kampfmittel.
Der Generalstreik der Linken gilt auch als Gradmesser für das eigene Durchsetzungsvermögen.
Am 28. April legten landesweit Brasilianer und Brasilianerinnen die Arbeit nieder. Gewerkschaften hatten zu dem ersten Generalstreik seit zwei Jahrzehnten aufgerufen. Soziale Bewegungen, linke Parteien und sogar die katholische Bischofskonferenz unterstützten den Aufruf. Bereits in den Morgenstunden wurden Barrikaden auf wichtigen Autobahnen errichtet. Geschäfte, Banken und Schulen blieben geschlossen. Der öffentliche Nahverkehr kam in vielen Städten fast vollständig zum Erliegen.
Tulio Bucchioni aus São Paulo berichtete der Jungle World: »Die Stadt stand komplett still. Es hat sich angefühlt, als wäre Sonntag gewesen.« Zugleich demonstrierten Hunderttausende Menschen. In mehreren Städten kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstrierenden. In der Millionenstadt Goiânia verletzten Polizisten einen 33jährigen Studenten schwer. Nach Angaben der Gewerkschaftsverbände beteiligten sich etwa 40 Millionen Menschen am »größten Generalstreik in der Geschichte Brasiliens«. Auch Felipe Oliveira Dias, der als Monteur bei Volkswagen in der Industriestadt São Bernando do Campo arbeitet, blieb zu Hause. »Bei uns hat niemand gearbeitet«, sagte der 27jährige. »Unser Streik ist eine Antwort auf die Angriffe der illegitimen Regierung.«
Nach dem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren im vergangenen Jahr will die Mitte-rechts-Regierung nun drastische Maßnahmen ergreifen. Neben der verfassungsrechtlichen Begrenzung der Staatsausgaben und einer Rentenreform (Jungle World 16/2017) ist eine Arbeitsmarktreform ein zentrales Vorhaben von Präsident Michel Temer. Unter anderem ist vorgesehen, Arbeitszeiten zu verlängern und es Arbeiternehmern zu erschweren, Sozialleistungen vor Gericht einzuklagen. Die Gewerkschaften werfen Temer vor, den Sozialstaat zu zerstören.
Der Präsident verteidigte seine Politik am Tag des Streiks: Die Reformen würden helfen, Brasilien zurück auf die »Spur der sozialen Entwicklung und des Wirtschaftswachstums« zu bringen. Temer kritisierte außerdem die »Einschränkungen der Bewegungsfreiheit« durch den Generalstreik. Der Bürgermeister von São Paulo, João Doria, bezeichnete die Streikenden sogar als »Faulpelze«. Auch die großen Medien, allen voran die des Konzerns Globo, wetterten gegen das Streikrecht und stellten die gewaltsamen Auseinandersetzungen ins Zentrum ihrer Berichterstattung. Obwohl bereits vor dem 28. April Stimmung gegen den Streik gemacht worden war, gelang es den Gewerkschaften, das Gros der Beschäftigten zur Arbeitsniederlegung zu bewegen. »Der Streik war so groß, weil er die linke Blase verlassen hat«, sagt Bucchioni. Die Krise trifft das Land hart und viele Brasilianerinnen und Brasilianer spüren die Austeritätspolitik bereits am eigenen Leib.
Der Generalstreik gilt der Linken auch als Gradmesser für das eigene Durchsetzungsvermögen. Man hofft, die Reformen der Regierung durch den Druck auf der Straße aufzuhalten. Allerdings kann sich Temer auf solide Mehrheiten im Kongress verlassen – obwohl er der unbeliebteste Präsident in der Geschichte des Landes ist. Einen Tag vor dem Streik verabschiedete die Abgeordnetenkammer mit großer Mehrheit die Arbeitsmarktreform. Diese muss zwar nun noch vom Senat angenommen werden, dies gilt allerdings als sicher.
Im Oktober 2018 sollen die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden. Eine Kandidatur hat Temer ausgeschlossen. Der 76jährige könnte bis dahin aber bereits großen Schaden angerichtet haben.