Gewerkschaft Verdi scheut den Arbeitskampf im Einzelhandel

Kampagne statt Kampf

Immer weniger Einzelhandelsunternehmen halten sich an Tarifvereinbarungen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beginnt deshalb eine Kampagne für die Allgemeinverbindlichkeit der Tarife.

Es handelt sich um den »härtesten Brocken« des Jahres 2017 – zumindest sieht es Frank Bsirske so, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Im Mai sollen die Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag für die etwa drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel beginnen. Die Branche ist geprägt von einem hohen Frauenanteil und einer stetig wachsenden Zahl an Teilzeit- und Minijobs. So sind zwei Drittel der Beschäftigten Frauen, diese üben aber gut 77 Prozent der Minijobs aus. Jeder und jede zweite Beschäf­­tigte arbeitet in Teilzeit. Zudem hat sich die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse von 1994 bis 2014 verdoppelt, ebenso wie deren Anteil an Neueinstellungen.

Gerade die vergangenen Auseinandersetzungen im Handel zeigen, dass vor allem Arbeitskämpfe Beschäftigte dazu veranlassen, sich zu organisieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

Während sowohl der Umsatz als auch die Verkaufsfläche in den vergangenen Jahren enorm gesteigert wurden, haben sich die Arbeitsbedingungen in der Branche deutlich verschlechtert. Die Öffnungszeit in den Abend- und Nachtstunden wurde genauso ausgeweitet wie die Arbeit an Samstagen und Wochenenden. Eine Ursache für die sich verschlechternden Bedingungen, die sich selbstverständlich auch in den Löhnen niederschlagen, ist die schwindende Tarifbindung im Handel. Unterlagen im Jahr 2000 insgesamt noch ungefähr die Hälfte aller Betriebe dem Branchentarifvertrag, sind es mittlerweile in Westdeutschland noch 25 Prozent, in Ostdeutschland sogar nur 14 Prozent. Gerade Großunternehmen wie Edeka und Real haben sich in den vergangenen Jahren aus der Tarifbindung verabschiedet.

Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen wäre es, die Arbeitgeber mit Arbeitskämpfen zurück in die Tarifbindung 
zu zwingen. Verdi geht jedoch einen anderen Weg. Unter dem Motto »Einer für alle« beginnt die Gewerkschaft mit der anstehenden Lohn- und Gehaltsrunde zugleich eine Kampagne für die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Handel. »Wir wollen damit erreichen, dass die Tarifverträge in der Handelsbranche nicht nur für tarifgebundene Unternehmen, sondern branchenweit für alle Beschäftigten gelten. Tarifflucht darf sich nicht länger auszahlen«, sagt zum Auftakt der Kampagne das Verdi-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger, zuständig für den Handel.

Das Bundesarbeitsministerium kann Tarifverträge auf Antrag der Tarifparteien für allgemeinverbindlich erklären, so ist es im Tarifvertragsgesetz vorgesehen. Dann gilt ein Tarifvertrag für die gesamte Branche, unabhängig davon, ob ein Unternehmen Tarifpartei ist oder nicht. »Lohn und Gehalt der Beschäftigten der Branche reichen oft vorne und hinten nicht aus, weil die Bezahlung vor allem in den vielen tariflich ungebundenen Betrieben bis an die Armutsgrenze gerückt ist«, so Nutzenberger. »Wir fordern daher, dass dieser Unterbietungswettbewerb über Dumpinglöhne endlich aufhört. Um Tarifflucht und Lohndumping zu bekämpfen, fordern wir die Arbeitgeber, aber auch die Politik auf, endlich wieder allgemeinverbindliche Tarifverträge möglich zu machen.« Kein Arbeitgeber dürfe sich zu Lasten tarifgebundener Unternehmen und insbesondere der Beschäftigten aus der Verantwortung stehlen, sagt die Gewerkschafterin.

Die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Handel wäre nichts Neues. Bis 1999 waren nahezu alle Tarifverträge in der Branche allgemeinverbindlich. Es war Konsens zwischen dem Arbeitgeberverband und den Gewerkschaften, nach der Unterzeichnung der Tarifverträge einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit zu stellen. Das Interesse des Arbeitgeberverbands dabei: Da Einzelhandelsunternehmen unabhängig von der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband an die tariflichen Vorgaben gebunden waren, gab es lange Zeit nur wenige Unternehmen, die den Verband verließen.
Die sozialpartnerschaftliche Einigkeit endete 2000 mit der Spaltung des Arbeitgeberbündnisses in zwei Verbände. Neben dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, seit 2009 Handelsverband Deutschland (HDE), entstand die hauptsächlich von der Karstadt-Gruppe getragene Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe (BAG). Diese führte neben der üblichen Mitgliedschaft die sogenannte OT-Mitgliedschaft ein – OT für »ohne Tarifbindung« –, die es Unternehmen ermöglicht, auch ohne Anerkennung des Tarifvertrags Mitglied im Arbeitgeberverband zu sein. Kurze Zeit später zog auch der HDE nach. Die Folge war, dass sich die Arbeitgeberverbände künftig gegen die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit sperrten. Waren 1997 noch 63 Tarifvereinbarungen – sei es zu Gehältern, Arbeitszeiten oder Urlaub – allgemeinverbindlich, sind es derzeit nur noch drei. Nachdem sich die BAG im Zuge der finanziellen Schwierigkeiten der Karstadt-Gruppe aufgelöst hat, ist die HDE zwar mittlerweile wieder die einzige Interessenvertretung der Einzelhandelsunternehmen. Die Möglichkeit der OT-Mitgliedschaft ist jedoch geblieben.

So erstaunt es kaum, dass die Arbeitgeber sich weiterhin gegen die Allgemeinverbindlichkeit aussprechen. »Die Tarifbindung erhöht sich, wenn wir den Unternehmen zeitgemäße und praktikable Tarifverträge anbieten können«, sagt Stefan Genth, der Hauptgeschäftsführer des HDE. Damit meint er wohl vor allem Tarifvereinbarungen, die den Beschäftigten mehr Flexibilität bei geringerer Bezahlung abverlangen. »Die Reform der Tarifverträge ist notwendig, weil sich die Branche beispielsweise mit veränderten Ladenöffnungszeiten und dem technologischen Fortschritt weiterentwickelt hat. Die von der Gewerkschaft immer wieder geforderte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen dagegen ist kein sinnvolles Werkzeug, um die Tarifbindung im Handel zu erhöhen«, heißt es in einer Pressemitteilung des HDE.

Ob sich Verdi mit der Forderung nach einer Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge durchsetzen kann, ist fraglich. Angesichts des niedrigen Organisationsgrads der Beschäftigten im Handel sieht die Gewerkschaft die beste Möglichkeit, die Arbeits- und Lohnbedingungen in der Branche zu verbessern, nicht in Arbeitskämpfen in den von Tarifflucht betroffenen Betrieben, sondern in der Intervention des Staats. Dabei zeigen gerade die vergangenen Auseinandersetzungen im Handel, dass vor allem Arbeitskämpfe Beschäftigte dazu veranlassen, sich zu organisieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Als beispielsweise die Arbeitgeber im Einzelhandel 2013 versuchten, mit der Kündigung des Manteltarifvertrags eine Schlechterstellung der Beschäftigten zu erreichen, kam es zu einem insgesamt sieben Monate andauernden Arbeitskampf, an dem sich Hunderttausende beteiligten. In fast 1 000 Einzelhandelsbetrieben kam es zu Arbeitsniederlegungen, bevor eine Einigung erzielt wurde.

Der Gewerkschaft gelang es dabei zudem, Beschäftigte in Bereichen zu organisieren, in denen sie zuvor nur über wenig Einfluss verfügt hatte. Fast 30 000 Neumitglieder konnte Verdi im Lauf des Konflikts im Einzelhandel für sich gewinnen und damit erstmals seit der Gründung am Jahresende einen Mitgliederzuwachs verzeichnen. Den Kampf der Kampagne vorzuziehen, wäre angesichts dieser Geschehnisse alles andere als abwegig gewesen.