Eine Initiative gegen »Islamophobie« in Kanada wird kontrovers diskutiert

Kulturkampf in Kanada

In Kanada wird anlässlich einer Initiative gegen die sogenannte Islamophobie über Islamkritik und systemischen Rassismus debattiert.

Mehr als 90 000 E-Mails hat Iqra Khalid in den vergangenen drei Monaten bekommen, darunter mehrere Morddrohungen. Seit Mitte Februar steht sie unter Polizeischutz. Sie habe eine »Diskussion anstoßen« wollen, sagte die Abgeordnete der Liberalen Partei über ihren Antrag gegen Islamophobie und systemischen Rassismus. Bei der Kon­troverse um den Antrag M-103 geht es um Islamkritik, den kanadischen Mul­tikulturalismus sowie um Sprache und Sprachpolitik.
Kanada steht für liberale Werte und wird als der tolerante Nachbar der USA wahrgenommen. Niemand symbolisiert das so sehr wie Justin Trudeau. Mit ihm als Spitzenkandidaten gewannen die Liberalen 2015 die Parlamentswahlen. Sein Kabinett ist das erste Kanadas, das paritätisch besetzt ist. Außerdem ist es das vielfältigste Kabinett, das Kanada je hatte: Aboriginee-Politiker und Behinderte, Flüchtlinge und Migranten – Trudeau zufolge sollte es »so aussehen, wie Kanada aussieht«.

Ein Gesicht dieses multikulturellen Kanada ist Iqra Khalid. Sie ist in Pakistan geboren, hat Kriminologie und Jura in England und den USA studiert, war Präsidentin der Vereinigung pakistanischer Studierender, lebt und arbeitet heute in einem Vorort von Toronto. Erst 29 Jahre war sie alt, als sie 2015 dem amtierenden Abgeordneten der Konservativen seinen Sitz für die Stadt Mississauga abnahm.
Etwas mehr als eine Million Kanadier, also drei Prozent der Bevölkerung, sind Muslime. Die meisten muslimischen Communities hätten den Extremismus in den eigenen Reihen »gut im Griff«, schreibt Raheel Raza vom konservativen Mackenzie Institute. Doch die Forscherin beobachtet auch eine Radikalisierung unter muslimischen Jugendlichen. Ermuntert werde diese durch falsche Toleranz gegenüber radikalen Gruppen. Trotzdem blieb Kanada vom islamistischen Terror lange Zeit verschont. Im Oktober 2014 versuchte der Konvertit Michael Zehaf-­Bibeau, das kanadische Parlament zu stürmen, und ­erschoss dabei einen Soldaten.
Der offizielle Bericht der Regierung zur Terrorgefahr in Kanada von 2016 verzeichnet 20 Verurteilungen wegen terroristischer Vergehen in den vergangenen zwölf Jahren und 21 Anklagen gegen Verdächtige. Die Regierung gibt für das Land dennoch weiterhin die Terrorwarnstufe »Me­dium« an – »könnte vorkommen«, heißt das.

Vorkommen können aber auch Übergriffe auf Angehörige von Minderheiten. Der aktuellen Regierungsstatistik zufolge hat sich seit 2012 die jährliche Zahl der hate crimes gegen Muslime in Kanada von 45 auf 99 mehr als verdoppelt. Insgesamt jedoch ging die Zahl der Hassverbrechen zurück, insbesondere weil weniger schwarze und jüdische Kanadier von Hassverbrechen betroffen waren. Die meisten hate crimes sind Fälle von Vandalismus.
Am 29. Januar erlebte das Land das schlimmste terroristische Gewaltverbrechen der vergangenen Jahre. Ein rechtsextremer Schütze stürmte in eine Moschee in Quebec, erschoss sechs Besucher und verwundete acht weitere. 
Um der Diskriminierung von Muslimen etwas entgegenzusetzen, hatte sich Samer Majzoub im Sommer 2016 an das kanadische Parlament gerichtet. 70 000 Unterschriften erhielt die Petition E 401 des Vorsitzenden des »Canadian Muslim Forum«. Sie statuierte, dass »extremistische Individuen nicht den Islam repräsentieren« und »verurteilt alle Formen von Islamophobie«. Im Dezember reagierte die Regierung mit einem Antwortschreiben: Man »verdamme« alle Formen der Diskriminierung, auch Islamo­phobie.
Khalid reagierte nun mit ihrer Initiative. Sie geht darin einen Schritt weiter. Die Regierung solle »das Klima des Hasses und der Angst bekämpfen« und »Islamophobie und alle Formen systemischen Rassismus und religiöser Diskriminierung verdammen«. Außerdem solle das Committee of Canadian Heritage – eine Forschungseinrichtung des Kulturministeriums – mit einer Studie beauftragt werden. Es solle einen Ansatz entwickeln, wie auf »allen Regierungsebenen« systemischer Rassismus und Islamophobie durch »evidence-based policy-making« reduziert werden kann. Dazu sollten Daten zu hate crimes und den Bedürfnissen der betroffenen Communities gesammelt werden.

Alle drei Oppositionsparteien brachten Ende Februar eine fast wortgleiche Gegeninitiative ein – ohne den Ausdruck Islamophobie. Diese scheiterte jedoch im Parlament.

Am 15. Februar wurde die nicht bindende Initiative erstmals debattiert. Konservative Kritiker befürchteten übertriebene political correctness und ein Verbot von Kritik am Islam. Vor ­allem sei der Ausdruck »Islamophobie« problematisch und nicht definiert. »Es geht bei dieser Angelegenheit um Worte. Wir sollten deshalb nicht die Bedeutung von Worten übergehen. Warum definieren wir Islamophobie nicht einfach?« kritisierte der konservative Abgeordnete Garnett Genuis. Khalid definiert Islamophobie als »irrationalen Hass gegenüber Muslimen, der zu Diskriminierung führt«. 
Rechte Gruppen wie die Concerned Citizens of Canada und Rebel Media behaupten, die nicht bindende Absichtserklärung schaffe ein Gesetz, das Islamkritik zur Straftat mache und die Sharia einführen wolle. Immerhin 26 000 Unterschriften hat deren Petition 909 mittlerweile. Sie fordern die ­Regierung darin auf, einen Verfassungszusatz zu verabschieden, der garan­tieren soll, dass »Sharia-Recht oder Sharia-Familiengerichte keinen Platz im kanadischen Rechtssystem haben«.

Auch liberale und säkulare Muslime, die einen wachsenden Einfluss von konservativen Kräften fürchten, sprechen sich gegen M-103 aus. Die jüdische Community, deren Mitglieder am meisten von »Hassverbrechen« betroffen sind, ist uneinig. Das Center for Israel and Jewish Affairs kritisiert die Formulierung: »Islamophobie ist ein ambivalenter Begriff«, der missbraucht werden könne. Vertreter der liberalen Nichtregierungsorganisation J-Space Canada halten dem entgegen, über ­Begriffe zu streiten lenke von der Notwendigkeit zu handeln ab.
Alle drei Oppositionsparteien brachten Ende Februar eine fast wortgleiche Gegeninitiative ein – ohne den Ausdruck Islamophobie. Diese scheiterte jedoch im Parlament. Regierung und Opposition werfen sich nun gegenseitig vor, das Thema politisch zu instrumentalisieren.

Eine Umfrage zeigt, dass die Unterstützung für Khalids Initiative in der Bevölkerung eher schwach ist, aber auch, dass die Kanadier systemischen Rassismus durchaus als Problem sehen. 42 Prozent der Befragten würden gegen M-103 stimmen, nur 29 Prozent sprechen sich für die Initative aus. Zugleich betrachten über die Hälfte der Befragten den Anschlag auf die Moschee in Quebec Ende Januar nicht als »Einzelfall«, sondern als Ausdruck eines »tieferen Problems«. Die Initiative ist für viele Kanadier offenbar dennoch nur Symbolpolitik. Trotz der Kritik votierten 201 Abgeordnete der Li­beralen sowie der New Democratic Party und einige Konservative am Donnerstag vergangener Woche für M-103. Nun hat die Regierungskommission 240 Tage, um ihre Studie zu systemischem Rassismus vorzulegen.