Das Leben als Song
In Jean-Paul Sartres Roman »Der Ekel« von 1938 taucht bei aller existentziellen Tristesse am Ende der tagebuchähnlichen Aufzeichnungen ein kleiner Lichtschimmer auf. Der Ich-Erzähler, Antoine Roquentin, entdeckt für sich die leise Hoffnung auf einen Lebensentwurf jenseits des alltäglichen Unbehagens am Dasein, vermittelt durch einen Song: »Some of these days (you’ll miss me, honey)«, ein vielinterpretierter früher Jazz-Standard. Wenn das Lied in seinem Stammlokal vom Grammophon erklingt, überwindet Roquentin seinen Ekel und findet sich stattdessen selbstvergessen »in der Musik«. Der Komponist und die Sängerin seien allein schon durch diesen Song aus der Verlorenheit im Leben »gerettet«, sie sind für Roquentin »ein bisschen wie Romanhelden«, sie schüchtern ihn mit ihrem entrückenden Musikstück ein und rühren ihn zu »etwas, was ich nicht mehr kannte: eine Art Freude«. Für ihn selbst kommt aber nur die Literatur als Ausdrucksform in Frage: »Vielleicht könnte ich dann, über das Buch, mich ohne Widerwillen an mein Leben erinnern.«
Der begnadete Songwriter und schwarzhumorige Melancholiker Stephin Merritt verknüpft auf dem neuen Album seiner Band The Magnetic Fields beides miteinander: In 50 Episoden beschreibt und vertont er jedes einzelne Jahr seines bisherigen Lebens – ausschnitthaft, pointiert und anekdotisch. Von »’66 Wonder Where I’m From« bis zu »’15 Somebody’s Fetish« besingt Merritt auf dem Album »50 Song Memoir« seine Erfahrungen, Betrachtungen und Prägungen und erscheint in dieser musikalischen Autobiographie indes als literarischer Held, dessen Werdegang dem Zuhörer fast schon als assoziativer Entwicklungsroman vor die Augen (und Ohren) tritt. Es ist verblüffend, wie gut diese formal strenge und zugleich auch ein wenig irrwitzige Idee eines Konzeptalbums mit fünf CDs respektive LPs und einer Spieldauer von insgesamt zweieinhalb Stunden gelingt.
Schon die ersten Erinnerungen zeichnen den Weg Merritts vor. Dem sechsjährigen Kind schreibt der Songwriter ein erstes Selbstbewusstsein zu, das sich als Mischung aus Phantasie und Einsamkeit in »’71 I Think I’ll Make Another World« ausdrückt. Es ist eines der schönsten Stücke des Albums, dessen Anklänge an das Motiv der Autopoiesis, der Selbstschöpfung, auch als pars pro toto für die gesamten Song-Memoiren und das Leben Merritts verstanden werden können: »No one can say ›That’s all wrong‹/cause I say ›Get out of my song‹/cause I can see another world/and I can make it with my hands./Who cares if no one understands?/I can see it now.« Zunächst steht naheliegenderweise auch die Beatnik-Mutter des Songwriters im Mittelpunkt, ihre Art der musikalischen Früherziehung, bei der sie ihren kleinen Sohn mit auf Konzerte nimmt (etwa zu Jefferson Airplane), aber ebenso ihr Faible für religiöse Kulte, vor allem fernöstliche, und ihr Hang, sich auf die falschen Männer einzulassen. Dies führt dazu, dass Merritt seinem cholerischen und nichtsnutzigen Ex-Stiefvater eine sarkastische Hymne widmet. »’77 Life Ain’t All Bad« beginnt als melodramatisches Chanson, um im Refrain dann zum gutgelaunten Mitsingvers zu mutieren: »Nananana nanana you’re dead now/so I sing/life ain’t all bad.«
Ein weiteres wichtiges Thema ist die schwule Selbstfindung Merritts, eng verknüpft mit seiner musikalischen (und literarischen) Sozialisation – beiläufig werden auf dem Album mehr als 20 Bands und Musiker und Musikerinnen genamedroppt, von Judy Garland über Ultravox zu Elliott Smith. In den Songs über seine Teenagerjahre treten, passend zur Dekade um 1980, die Disco- und Elektropop-Einflüsse stärker in den Vordergrund. Seine Liebe zum Synthesizer wie auch sein Zeitvertreib in einschlägigen New Yorker Nachtclubs der Epoche finden Eingang in einige Stücke.
Im vorletzten Lied der »50 Song Memoir« beklagt Stephin Merritt das leider unvermeidliche Verblassen der Erinnerungen, das jedes Einfangen der eigenen Vergangenheit nur als skizzenhafte Autofiktion erscheinen lässt.
Das Booklet zu »50 Song Memoir«, bei dem es sich um ein liebevoll gestaltetes Büchlein handelt, umfasst, neben allen Songtexten, ein langes Interview, das der befreundete Schriftsteller Daniel Handler mit Merritt führte und in dem die beiden das komplette Album chronologisch durchgehen. Auf diese Weise korrespondiert es hervorragend mit der musikalischen Lebensgeschichte, manche Andeutungen werden weiter ausgeführt und Merritt reflektiert außerdem seine literarischen Freiheiten als Autobiograph. In Bezug auf die hedonistischen Disko-Eskapaden zeigt sich Handler allerdings verwundert, da er sich das bei seinem heute notorisch zurückhaltenden Freund einfach nicht vorstellen könne. Merritt erwidert lakonisch, eigentlich sei dies damals bereits nicht anders gewesen: Er habe halt in einer Ecke gesessen, während Mitglieder von Yello versehentlich Drinks über ihn kippten, und er habe sich beharrlich geweigert, mit den Leuten an der Bar zu fraternisieren.
Die Abwesenheit des Vaters – den der Songwriter nur zwei Mal getroffen hat – findet sich als wiederkehrendes Motiv in den Texten. Merritt macht auch keinen Hehl daraus, dass seine Anfänge als Musiker zu Beginn der neunziger Jahre vor allem von Armut geprägt waren, die er mal besser, mal schlechter habe ignorieren können. Nicht zu kurz kommen zudem die Liebeslieder (im weitesten Sinne). Sein heutiges Renommee beruht maßgeblich auf seinem ersten megalomanen Konzeptalbum mit den Magnetic Fields: »69 Love Songs« von 1999. Auch bei diesem konnte man den Titel beim Wort nehmen, denn es enthielt eben, verteilt auf drei CDs, 69 Stücke über die Liebe (und über Liebeslieder), schon hier, wie auf seinem neuesten Werk, in allen möglichen Stilen und Formen. In erster Linie changiert die Band zwar zwischen eigenwillig instrumentiertem Folk und Indie-Rock einerseits und andererseits elektronischer Popmusik, doch auf beiden Alben finden sich Anleihen aus Reggae und Calypso sowie Jazz und gar klassischem Kunstlied.
Auf den ersten Veröffentlichungen der Magnetic Fields, die sich stilistisch zunächst etwas enger dem Baroque und Twee Pop verschrieben (und jeden Belle & Sebastian-Fan verzücken könnten), hatte Stephin Merritt noch Susan Anway als Gastsängerin den Leadgesang überlassen, da er seine eigene knarzig-sonore Bass-Stimme, die die Gruppe heute auszeichnet, für ungenügend hielt. Zur Band gehören außerdem Claudia Gonson, insbesondere verantwortlich für alle möglichen Arten Schlagwerk, sowie Sam Davol, der zumeist am Cello zu hören ist. Ab dem fünften Album »Get Lost« (1995) zählt auch John Woo an verschiedenen Zupfinstrumenten, ob Banjo oder E-Gitarre, zur festen Besetzung. Und nachdem sie auf »69 Love Songs« bereits einige Stücke als Gastsängerin eingesungen hat, ist zudem Shirley Simms (Violine, Autoharp und eben Gesang) seit geraumer Zeit Teil der Band.
Merritts grenzüberschreitende Underground-Version des Baroque Pop wird des Öfteren mit einem kongenialen Indie-Dilettantismus in Verbindung gebracht. Doch Justus Köhncke hat kürzlich im Kaput-Blog zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei den Aufnahmen der Magnetic Fields allem Minimalismus und Analog-Fetisch zum Trotz gerade nicht um einen Lo-Fi-Sound handelt, sondern im Gegenteil größter technischer und musikalischer Aufwand betrieben wird, um den Songs ihr jeweiliges Gewand zu verleihen. Für das Formatradio mit seinem standardisierten Frequenzbrei und für den dadurch erst möglichen Mainstream-Erfolg ist die Musikform der Gruppe mit all ihren Klangidiosynkrasien und Störelementen dennoch denkbar ungeeignet – dies ungeachtet der Tatsache, dass Merritt sich immer schon an den ganz großen Pop-Entwürfen abarbeitet: er, der hoffnungslose Romantiker, den er in einem Stück der 69 Liebeslieder beschreibt. Nicht nur darin ähnelt er Arthur Russell, einem anderen bedeutenden New Yorker Singer/Songwriter. Auch in der Vielfalt und emotionalen Tiefe ihres musikalischen Œuvres haben die beiden einiges gemein. Allerdings wurde Russell erst nach seinem frühen Tod 1992 einer etwas breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Im vorletzten Lied der »50 Song Memoir« beklagt Stephin Merritt das leider unvermeidliche Verblassen der Erinnerungen, das jedes Einfangen der eigenen Vergangenheit nur als skizzenhafte Autofiktion erscheinen lässt. Wenn er ein Maler oder ein Dichter wäre, dann hätte er ja immerhin die Eindrücke bildhaft oder anhand der richtigen Worte festhalten können. »But I’m just a singer; it’s only a song/The things I remember are probably wrong/I wish I had pictures of every old day/Cause all these old memories are fading away.« Die 50 Episoden, die er auf seinen Song-Memoiren erzählt, vermitteln allerdings – insbesondere durch die Vielzahl von Stimmungen, die in den Melodien und Stilen erst musikalisch zum Ausdruck kommen – ein Kaleidoskop an Lebenseindrücken, das ein autobiographischer Text alleine so nicht hätte hervorbringen können.
The Magnetic Fields: 50 Song Memoir (Nonesuch)